The Ordinaries

The Ordinaries

Von Friederike Grabitz

Ein Mann und eine Frau suchen sich im Gedränge des Bahnhofs, laufen zu romantischer Orchestermusik aufeinander zu. „Das ist mein Vater, und das meine Mutter“, sagt eine junge Frau aus dem Off. „Nein, nicht sie, sondern die dort, hinten links“. Ein Bildausschnitt rückt heran mit einer blassen, beige gekleideten Frau, die nur unscharf zu sehen ist.

Die Stimme aus dem Off gehört Paula, die als Tochter einer Nebenfigur den Sprung auf die Hauptfiguren-Schule geschafft hat. Hauptfiguren haben ein schillerndes Leben mit Choreografie, perfektem Familienleben und großen Gefühlen. Zum Beispiel Paulas Freundin Hannah, die mal eben ein Gespräch unterbricht, um eine Musical-Familienszene zu drehen.

Paulas Familienleben sieht anders aus. Die Mutter, mit der sie in einem pastellfarbenen, anonymen Wohnblock lebt, hat nur wenige Worte zur Verfügung. Ihr Leben spielt sich ohne Gefühle und Spannungsbogen ab. Denn in der Welt des deutschen Science-Fiction-Films THE ORDINARIES, der bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck im November 2022 vorgestellt wurde, sind Film und Leben untrennbar verbunden. Die Schauspieler sind zugleich Figuren und Zuschauer in ihrem Leben, das sie entweder als Hauptfiguren für die Bühne inszenieren – oder als Nebendarsteller eben nicht.

Als sich Paula auf die Suche macht nach der Identität ihres tot geglaubten Vaters, findet sie heraus, dass es in abgeriegelten Bereichen hinter den Kulissen eine weitere soziale Klasse gibt. Es sind diejenigen, die gar keine Rolle im Film haben: Fehlbesetzungen und Outtakes, herausgeschnitten und ausgestoßen ohne Recht auf eine eigene Rolle mit Farben, Musik und Storyline. Für sie hat die schillernde Filmwelt keinen Platz.

THE ORDINARIES ist eine Allegorie auf die ausgrenzende Hierarchie einer Klassengesellschaft. Aber weil „soziale Ausgrenzung nicht so ein toller Pitch ist“, sagt Produzentin Britta Strampe, bewegt er sich nicht auf der Analyse-Ebene. „Die Unterscheidung zwischen ernsten und unterhaltsamen Stoffen, die es in der Arthouse-Szene so oft gibt, teile ich nicht“, sagt Strampe. THE ORDINARIES geht mit aufwändigen filmischen Mitteln in die Vollen. Er ist Musical-Film und Satire, Hollywood-Parodie und Heldengeschichte in einem fiktiven 70er-Jahre-Setting. Das ist für einen deutschen Film ungewöhnlich groß gedacht und umgesetzt, vor allem vor dem Hintergrund, dass es sich um das Spielfilm-Debut von Regisseurin Sophie Linnenbaum handelt.

Um die groß angelegte Ausstattung zu verwirklichen, hat das Filmteam mit Raumausstattern der Universität Kiel zusammen gearbeitet und setzt auf der Produktionsebene Elemente der Farbgebung und Montage ein, um die Kontraste zwischen der viktorianisch-opulenten Hauptfiguren-Welt, den blassen Nebenfiguren und der Outtake-Unterwelt herauszuarbeiten. Für den Score konnten sie das Filmorchester Babelsberg gewinnen.

Dabei ist der Film voller Zitate von Forest Gump bis Spiderman, kann als eine komplexere Fortsetzung der Truman-Show gelesen werden oder als Kommentar zur Social-Media-Welt, in der Influencer und andere Digital Natives an einem gephotoshopten Bild ihrer selbst feilen. Eine weitere philosophische Ebene ist die Suche Paulas nach ihrer wahren Identität. Sie fragt sich, ob ihre Geschichte vorgeschrieben ist oder ob sie sie beeinflussen kann. Ein Outtake, mit dem sie sich anfreundet, hat für sich eine pragmatische Antwort gefunden: „Ich habe keine Story“, sagt er, „also kann ich mich selbst auch nicht verlieren“.

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The Ordinaries, Deutschland 2022 | Regie: Sophie Linnenbaum | Drehbuch: Sophie Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky | Kamera: Valentin Selmke | Musik: Fabian Zeidler | Darsteller: Fine Sendel, Jule Böwe u.a. | Laufzeit: 120 min.

Kinostart: 30.03.2023