Das Milliarden-Dollar-Gehirn
Von Michael Kathe
Nachdem der zweite Harry-Palmer-Film bereits kräftig an den Wahrheiten über West und Ost gerüttelt hatte, geht BILLION DOLLAR BRAIN noch weiter. Regisseur Ken Russell führt uns in seinem Frühwerk an die Grenzen dessen, was 1967 im Westen als Konsens-Ideologie galt. Dass Russells Auftragsarbeit üblicherweise als unbedeutender dritter Teil einer Filmserie abgetan wird, dürfte jedem unverständlich sein, der den Film gesehen hat.
Tatsächlich handelt es sich bei BILLION DOLLAR BRAIN um ein kleines Meisterwerk, ästhetisch wie inhaltlich. Harry Palmer (Michael Caine) will nicht mehr für die britische Spionageabteilung arbeiten und verdingt sich mehr schlecht als recht als Privatdetektiv. Ein Auftrag, den er telefonisch per Computerstimme erhält, führt ihn mit einer Thermosflasche voller Eier nach Finnland. Sein Kontakt dort stellt sich als alter Bekannter heraus, der Amerikaner Leo Newbegin (Karl Malden). Zusammen mit seiner finnischen Geliebten Anya (Deneuve-Schwester Françoise Dorléac in ihrer letzten Rolle) arbeitet er für den „Kreuzzug der Freiheit“, eine riesige kriegsgeschulte Organisation des texanischen Millionärs General Midwinter (Ed Begley), die unter anderem die Eier mit tödlichen Viren in die Sowjetunion schmuggeln soll, um eine Pandemie auszulösen.
Kaum ist Palmer in Finnland, betritt er eine andere Welt. Detailaufnahme Anya: „Now is the winter of our discontent“ („Jetzt ist der Winter unseres Missvergnügens“), zitiert sie Shakespeare – und so fühlt sich die Umgebung an. Große Totalen schneebedeckter, weißer Landschaften und grauer Himmel werden sich durch den ganzen Film ziehen. Große Pelzmützen, die wenig Raum für Gesichter und Emotionen lassen. Große emotionale Musik, die permanent Unterkühlung vortäuscht. Auf der Überfahrt auf eine Insel küsst Anya Harry unvermittelt, wie eine Hitchcock-Blondine das zur Zeit der sexuellen Befreiung tun würde: scheinbar emotionslos und plötzlich sehr direkt. Bevor die zwei Leo in einer abgelegenen Sauna treffen (wo gleich alle nackt sein werden): „Vorsicht, er darf nichts merken. Er ist so eifersüchtig.“
Palmer ist in einem eiskalten Fegefeuer zwischen West und Ost angekommen. In Finnland, dem Land der tausend Seen, bei dem im Winter nicht klar ist, ob man festen Boden unter den Füßen hat oder ob man sich noch im NATO-Bereich oder schon in den Ländern des Warschauer Pakts befindet. Die moralischen Fragen, wer gut und wer böse ist, stellen sich sehr früh. Newbegin erhält seine Aufträge von einem Computer, der im Namen des texanischen Generals den Konflikt sucht. Palmer wird auch von seinem ehemaligen britischen Vorgesetzten Colonel Ross (Guy Doleman) und später dem sowjetischen Oberst Stok (Oskar Homolka) konsultiert. Während ersterer so gar nicht Harrys Gunst genießt („I’d be bloody grateful if you’d go.“), punktet der Breschnew-Lookalike KGB-Chef Stok mit einem grandiosen Auftritt: Er betritt nachts als Butler Palmers Hotelzimmer, trinkt Vodka und zitiert Lenin, während er seine Uniform anzieht, um das Zimmer durchs Fenster zu verlassen. Im Gegensatz zum MI-6 und den Amerikanern erkennt Stok Harrys verborgene gute Seele und warnt ihn vor der bösen Natur seiner Auftraggeber, die zur Vernichtung des Bolschewismus auch nicht davor zurückschrecken, mit Nazi-Kollaborateuren zusammen zu arbeiten: „You would imagine that people guilty of such terror would remain quiet. But no, these scum are the worst troublemakers.“
Dieser warmherzige, geradezu freundschaftliche Besuch in einer Welt moralischer Ungewissheit deutet schon an, in welche Richtung sich der Film entwickelt. Nachdem Palmer vom Computer nach Texas in die Homebase der Kreuzzügler berufen wird, lernt er eine dem Wahnsinn verfallene Welt kennen. Die Kameraführung gerät völlig aus den Fugen, anstelle der starren Totalen des Nordens verbietet hier eine entfesselte Handkamera jeden rationalen Gedanken. Stattdessen riesige Feuer im Oil-State, ein chaotisches, beinahe heidnisches Volksfest (im Namen des Herrn) und lärmende, tosende antikommunistische Reden. General Midwinter gießt Öl ins Feuer. „Ihr Europäer wisst nicht, wie gefährlich der Kommunismus ist“, schmettert er Palmer entgegen, „jede Luft, außer die in Texas, ist vergiftet.“ Hier in Texas befindet sich Palmer auf einem Territorium ideologisierter Kriegshetze, von Ken Russell als schöner Kontrast in die finnische Kühle eingebaut. Der amerikanische Imperialismus wird im Gegensatz zur bedächtigen russischen Politik als aggressiv und invasiv dargestellt. Heißsporne, christlich und unmenschlich. Anti-US-Imperialismus in voller Breitseite. Natürlich führte die Veröffentlichung des (relativ erfolglosen) Films in den USA zu einer kleinen Kontroverse über dessen pro-sowjetische Haltung.
Weder Supercomputer noch Midwinter wissen, dass Leo Angaben über eine angeblich riesige lettische Widerstandsgruppierung gefälscht und das Geld zu deren Unterhalt selbst eingesteckt hat. So spuckt der Supercomputer Daten aus, die einen Überfall von Midwinters Privatarmee, die in Finnland auf einen Einsatz wartet, auf das kommunistische Lettland nahe legt. Zurück in Finnland versucht Palmer das zu verhindern und die Armee zu stoppen. Doch die Infanterie in Tanklastern, die Midwinter nachts über den vereisten finnischen Meerbusen schickt, versinkt nach einem sowjetischen Bombardement in den schwarzen Tiefen des Meeres.
BILLION DOLLAR BRAIN demonstriert das überhandnehmende Misstrauen gegenüber der Geheimdiensttätigkeit in den sechziger Jahren und die Rolle der westlichen Geheimdienste an der Destabilisierung des Weltgefüges. Geheimdienste legen die Lunten, damit Wahnsinnige den Flächenbrand entzünden können. In BILLION DOLLAR BRAIN spielen Agenten eigentlich keine relevante Rolle mehr, auch Palmer nicht: Sie agieren nur noch im Dienste ihres Herrn zum eigenen Vorteil. Nicht der MI-6 verhindert Kriege, sondern die sowjetische Luftwaffe. In diese ganze Story wird Palmer nicht freiwillig hineingezogen: Eigentlich wollte er sich aus der Spionagewelt verabschieden, lässt sich auch nicht mehr überreden und agiert als Außenseiter. Trotzdem: Kaum ist er in Finnland, ist er der Paranoia mehr als nur ausgesetzt. Die Paranoia ist untrennbar verbunden mit seinem beruflichen Auftrag.
Nicht von ungefähr erinnert die Welt-Paranoia an die düsteren Filme der Série Noir. Ken Russell erkennt mit analytischer Klarheit, wie sehr sich Ungewissheiten und Machtlosigkeit des Individuums im Agentenfilm und in der Schwarzen Serie gleichen. Mit einem Augenzwinkern zitieren Anfangs- und Endszene des Films die Klischees der Films Noirs der 30er und 40er. Eingeführt wird Palmer als Privatdetektiv mit dem klassischen Büro eines Philip Marlowe, erfolglos und abgefuckt (doch was soll ein desillusionierter Spion anderes tun als zum abgehalfterten Detektiv zu werden?). In der Schlusszene begegnen sich Anya und Harry noch einmal im ewigen Eis – und bevor Anya mit Oberst Stok in die Sowjetunion fliegt, sieht man die beiden noch einmal in kühlem Profil-Close-up: „Goodbye Harry. We would have made nice babies together.“ CASABLANCA lässt grüßen.
Dass wir es in BILLION DOLLAR BRAIN nicht nur mit einem raffinierten Anti-Bond-Spionagefilm zu tun haben, sondern auch mit einem ersten richtigen Ken-Russell-Film (ALTERED STATES, TOMMY, GOTHIC, LISZTOMANIA u.v.m.), zeigt sich in der differenzierten Darstellung der paranoiden Welt über die teilweise fantastische, exaltierte Inszenierung – und oft auch im Einsatz von Kunst. Wie ein Abgesang auf die Erotik des ausgehenden 19. Jahrhunderts wirkt es, als Palmer durch das Haus des Dr. Kaarna an üppigen Pflanzen und großen erotischen Gemälden vorbeistreicht, bis er den toten Doktor entdeckt. Während der gigantische Medusenkopf (von Caravaggios’ Medusa inspiriert) in Anyas Atelier ebenso eine Geschichte über Palmers Befindlichkeit erzählt wie die alte Kunst in Leos finnischem Hauptquartier (einem Kloster) den rückschrittlichen Wahn der Mission wiedergibt. Der europäischen Kunst steht der Supercomputer der USA gegenüber: Clean und riesig spuckt er Lochkarten anstelle von Kunst aus und Entscheidungen, die keinen Kontakt zur Realität haben. Oder die an Swastikas erinnernden zangenartigen Zeichen von Midwinters Armee, die Aggression und Faschismus gleichzeitig ausdrücken.
Ken Russell hat in der dritten Folge der Harry-Palmer-Serie noch einmal eine ganz andere Handschrift für die Paranoia des Anti-Bond-Spionagefilms der Sechziger eingeführt als es die Vorgänger IPCRESS – STRENG GEHEIM und FINALE IN BERLIN schon auf überzeugende Art getan haben.
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Billion Dollar Brain |Grossbritannien 1967 | Regie: Ken Russell | Drehbuch: John McGrath | Musik: Richard Rodney Bennett | Kamera: Billy Williams | Darsteller: Michael Caine, Karl Malden, Ed Begley, Oskar Homolka, Françoise Dorléac, Guy Doleman | 111 min.
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