Die Grube des Grauens

Die Grube des Grauens

Von Michael Humberg

Gelegentlich trifft man bei seiner filmischen Odyssee durch die Jahrzehnte und Genre auf Werke, die einen ziemlich sprachlos zurücklassen. Der Abspann läuft und ein Gefühl nachhaltiger Irritation macht sich breit. DIE WURMFRESSER (1977), MALABIMBA (1979) und MAD FOXES (1981) sind solche „Was, zur Hölle, war das denn?!“-Kandidaten; genauso wie auch DIE GRUBE DES GRAUENS (1981). Das deutsche Verleihcover der Toppic-Videocassette lässt einen Horrorfilm vermuten, aber hatte Regisseur Lew Lehman den tatsächlich im Sinn? Streckenweise erinnert sein Film an ein „Coming of Age“-Drama, teilweise an eine Halloween-Ausgabe von DIE FRAGGLES (1983-1987). Dazu später mehr.

Der 12jährige Jamie Benjamin – verkörpert von Sam Snyders, bekannt aus der Fernsehserie DIE ABENTEUER VON TOM SAWYER UND HUCKLEBERRY FINN (1979-1980) – ist ein Problemkind ohne Freunde. Wegen seiner merkwürdigen Art (oder seines hässlichen Pottschnitt) stößt er überall auf Ablehnung. Die Nachbarstochter hänselt ihn und bei den Erwachsenen eckt er an. Kurzum: Ein Sonderling, wie er im Buche steht. Sogar seine Eltern kommen nicht mit ihm klar und engagieren die Psychologiestudentin Sandy (Jeannie Elias) als Nanny. Obwohl sie einige Jahre älter ist, findet Jamie Gefallen an ihr, und zwar mehr als nur platonisch. Er beobachtet sie unbemerkt beim Schlafen und lässt sich von ihr den Rücken in der Badewanne waschen. Dabei beschuldigt er seine Mutter beiläufig und indirekt der sexuellen Belästigung. Selbst wenn Sandy das als pubertäre Phantasterei abtut, dürfte sie spätestens nach einem heimlichen Badbesuch ihres Verehrers, bei dem sie nackt unter der Dusche steht, erhebliche Zweifel haben, ob ihre Jobwahl eine gute Idee war. Und als wäre das alles nicht schon schräg genug, gibt es da noch einen Plüschteddy, mit dem Jamie spricht oder sogar telepathisch kommuniziert, denn „Teddy“ führt offensichtlich ein Eigenleben. In einer Szene dreht er selbständig den Kopf, als Sandy den Raum verlässt. Da Jamie nicht anwesend ist, kann es sich um keine – für die Zuschauer visualisierte – Einbildung von ihm handeln. Der mysteriöse Vorgang bleibt im weiteren Verlauf des Films ungeklärt und verstärkt den bizarren Gesamteindruck.

Die titelgebende „Grube des Grauens“ befindet sich im nahegelegenen Wald. In ihr hausen pelzige Wesen, die „Troglodyts“, welche sich als äußerst hungrig erweisen. Zunächst versorgt Jamie sie mit Fleisch vom Metzger, später will er gar eine lebende Kuh überreden (!) in das Loch zu hüpfen, doch die hat naturgemäß etwas dagegen. Da kommt „Teddy“ auf die glorreiche Idee, Menschen zu verfüttern. Aber nur die Bösen, die es verdient haben. Und so landet unter anderem Sandys Freund auf der Speisekarte der Grubentrolle. Als sie Verdacht schöpft und den Möchtegern-Casanova zur Rede stellt, beißt dieser weltmännisch in einen Apfel und streitet alles ab. Kann ein 12jähriger im roten Rollkragenpullover lügen? Ab in die Grube mit ihr!

Irgendwann geht Jamie das Futter aus, weswegen er die Monster zur Selbstversorgung aus ihrem entlegenen Habitat entlässt. Die „Troglodyts“ sind durch die beständige Nahrungszufuhr gewachsen und erinnern nun an eine Mischung aus BEAST CREATURES (1985) und dem Baumvolk der „Yanomamo“ aus NACKT UND ZERFLEISCHT (1980). Bevor sie die Stadt erreichen und größeres Unheil anrichten können, kümmert sich die örtliche Bürgerwehr mit Schrotflinte und Bulldozer um sie und bereitet dem unchristlichen Treiben ein schnelles Ende. Jamie kommt anschließend zu seinen Großeltern aufs Land, wo er sein weibliches Pendant trifft.

Während diverse US-Filme, u.a. aus steuerlichen Gründen, in Kanada gedreht werden, handelt es sich bei DIE GRUBE DES GRAUENS um eine kanadische Produktion, die in den Vereinigten Staaten entsteht. Als Drehort wird das beschauliche Beaver Dam, Wisconsin, ausgewählt, weil es über den typischen amerikanischen Kleinstadtcharme verfügt und die Tochter des Produzenten John Bassett dort zuvor ein Tenniscamp besucht und von der Stadt geschwärmt hatte. THE PIT ist Lew Lehmans einzige Regiearbeit mit Produktionskosten von etwa einer Million kanadischer Dollar. Es gibt auch eine Romanadaption des Stoffes von John Gault unter dem Titel „Teddy“, das eigentliche Drehbuch jedoch stammt von Ian A. Stuart und unterscheidet sich deutlich vom späteren Film. Hier ist der Ton insgesamt ernster und der Protagonist etwa acht bis neun Jahre alt, also merklich jünger. Sowohl die Gespräche mit Teddy als auch die haarigen Grubenwesen existieren in der Vorlage lediglich im Kopf des Kindes. Erst der Regisseur lässt die Monster real werden und fügt dem ursprünglichen Skript damit mehr Schauwerte hinzu. Die Zuschauer bekommen nun ein handfestes Creature-Feature geboten statt ominöse Hirngespinste einer autistischen Hauptfigur. Zwar ist Autor Stuart dem Vernehmen nach von der filmischen Umsetzung alles andere als angetan, doch deren Unterhaltungswert profitiert ungemein von der Diskrepanz zwischen dem Drehbuch als ernsthafter psychologischer Abhandlung und den Slapstick- und Horrorelementen (Stichwort: Oma im Rollstuhl), die Lehman einstreut. Gerade die Tatsache, dass sich der Film nicht entscheiden kann, was genau er sein will – manch einer könnte ihn gar als unausgegorenen Murks bezeichnen – macht letztlich einen nicht unerheblichen Teil seines Reizes aus.

In den USA hat sich das Werk nach einer überschaubaren Kinoauswertung zu einem kleinen Klassiker des abseitigen Heimkinos entwickelt. Mit der Blu-ray-Veröffentlichung von Kino Lorber gelang 2016 sogar der Sprung ins HD-Zeitalter. Neben einem knackigen Bild werden dem Käufer ein Audiokommentar und Interviews mit dem Autor und den beiden Hauptdarstellern geboten, die mittlerweile nicht mehr als Schauspieler aktiv sind. Sammy Snyders arbeitet heute als Tanz- und Bewegungslehrer in Toronto. Sein Kindermädchen, Jeannie Elias, die vor THE PIT noch in dem viel zu unbekannten DEADLINE (1980) zu sehen war, ist nun hauptsächlich als Synchronsprecherin tätig. Regisseur Lew Lehman verstarb bereits im Jahr 2000, weswegen er von der späten Würdigung, die sein Film – befeuert durch das Internet – erfahren hat, leider nichts mehr mitbekommen hat.

Hierzulande ist DIE GRUBE DES GRAUENS seit der Veröffentlichung auf VHS eher stiefmütterlich behandelt worden. Ein digitaler Release ist weiterhin nicht in Sicht, auch wenn die damalige Indizierung inzwischen verjährt ist und 2010 wieder aufgehoben wurde. 1985 wird die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) vom Stadtjugendamt Bochum auf das Werk aufmerksam gemacht und ist vom Dargebotenen nicht sonderlich angetan. Sie befürchtet sozialethische Desorientierung, weil ein Kind als Rächer an seinen Widersachern auftritt und die voyeuristischen Szenen „falsche Vorstellungen eines Umgangs mit sexuellen Problemen bewirken“. Aus heutiger Sicht ist es bemerkenswert, mit welch humorloser Akribie die BPjS-Prüfer vermeintlich schädliche Szenen inspizieren und im Indizierungsbescheid auflisten. Obwohl die Todesszenen wegen der begrenzten finanziellen Mittel für Spezialeffekte eher dezent ausfallen, sieht die Bundesprüfstelle seinerzeit sogar die Menschenwürde gefährdet und erklärt: „Der Film verletzt in eklatanter Weise die Würde des Menschen. Er zeigt in mindestens zwei Szenen genau, wie Menschen auf brutale Art und Weise liquidiert werden, in dem [sic!] Monster sie zerfleischen.“ Eine eigenwillige, um nicht zu sagen gewagte Interpretation der sparsam eingesetzten Effektszenen, die ein Publikum mit aktuellen Sehgewohnheiten sicher nicht mehr teilen dürfte.

Gerade die frühen Meisterwerke des Horrors sind oft humanistisch geprägt (siehe: FRANKENSTEIN, 1931 oder FREAKS, 1932) und sympathisieren mit sozialen Außenseitern. Bei DIE GRUBE DES GRAUENS ist eine derartige Intention nicht erkennbar. Was also wollten uns die Macher mit dem Film sagen? Ist er vielleicht eine Parabel auf die erwachende Sexualität? Steht das hungrige, wilde Getier, das tief unten im Loch lauert, für das unkontrollierbare „Es“, für triebhaftes sexuelles Verlangen, das gestillt werden will? Symbolisieren die stets hungrigen, haarigen Wesen eine unter der zivilisierten Oberfläche liegende wachsende Begierde? Wahrscheinlich sind solche Interpretationsansätze viel zu weit hergeholt. Wir sollten uns einfach daran erfreuen, dass es zwischen all dem 08/15-Horror vom Reißbrett kleine ungewöhnliche Schmuddelfilme wie DIE GRUBE DES GRAUENS gibt, die das eingangs erwähnte ungläubige Staunen selbst noch bei Video-Vielsehern evozieren können.

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Verwendete Quellen:
– Audiokommentar von Paul Corupe (Canuxploitation.com) und Filmhistoriker Jason Pichonsk auf der Blu-ray Veröffentlichung von Kino Lorber (2016).
– Indizierungsbescheid der Bundesprüfstelle. Entscheidung Nr. 2351(V) vom 13.09.1985
– Webseite: https://www.canuxploitation.com/review/pit.html (Aufgerufen am 23.01.2024)

The Pit, Kanada/1981 | Regie: Lew Lehman | Drehbuch: Ian A. Stuart | Kamera: Manfred Guthe | Musik: Victor Davies | Darsteller: Sam Snyders, Jeannie Elias, Sonja Smits u.a. | Laufzeit: 96 min.