Stoker

Stoker

Von Michael Kathe

Um STOKER blieb es immer ruhig. Weil man vom Regisseur von OLDBOY erwartete, dass sein erster US-Film an sein exzessives, durchgeknalltes Kino anknüpfen sollte – und STOKER das partout nicht einlöste? Doch was macht das schon? Denn Park Chan-wooks STOKER ist ein äußerst gelungener, fieser Psychothriller, der sich an Hitchcocks SHADOW OF A DOUBT anlehnt und einiges an subtilem Thrill und Überraschungen bereit hält.

Als India Stokers Vater an ihrem 18. Geburtstag bei einem Autounfall stirbt, geschieht eine Ersetzung. Der India völlig unbekannte Onkel Charlie (Matthew Goode) taucht aus dem Nichts bei der Beerdigung auf und nimmt sich vor, nun bei India (Mia Wasikowska) und ihrer Mutter Evelyn (Nicole Kidman) zu leben. Beim Namen „Onkel Charlie“ dürften bei jedem Filmfreund die Alarmglöckchen schon einmal zu bimmeln anfangen – in SHADOW OF A DOUBT taucht der reiche Onkel Charlie bei der zufriedenen US-Familie Newton auf und versucht seine Verbrecherspuren zu verwischen.

Die Story in STOKER funktioniert zwar anders, aber Charlie Stoker etabliert sich von Anfang an als zweifelhafte Version. Umso perfider ist es da, mitanzusehen, wie Evelyn fasziniert und erotisiert ist vom gut aussehenden, smarten Typen. Auch wenn er sie zwischendurch immer wieder links stehen lässt und seine Aufmerksamkeit mehr dem Töchterchen zuzuwenden scheint. Regisseur Park Chan-wook inszeniert das immer wieder auf subtile Weise, indem Evelyn zum Beispiel Charlies Wahl des Weines für dessen Reife lobt. Charlie entgegnet aber, dass man den Wein nicht mit einem jungen vergleichen kann und schiebt die Weinflasche India zu, um festzustellen: „1994, the year you were born.“

India beschäftigen allerdings andere Dinge. Sie wird von Mitschülern gehänselt und gequält, und das in einer Zeit, in der sie sich selber neu entdeckt und selbstbewusst genug ihrer Umwelt Paroli bietet. Park Chan-wook hat für diese Ambivalenz ein schönes, subtiles Bild gefunden: eine Spinne klettert das Bein entlang unter ihren Rock.

Evelyn scheint blind vor Verlangen, India leidet unter Adoleszenz-Problemen. Die ersten Zweifel an Charlie kommen anderswo her: Die Haushälterin der Stokers ist mit einem Mal verschwunden. Weshalb? Etwas später entdeckt India sie in Einzelteilen in der Tiefkühltruhe. Und als Indias Großtante Gin auf Besuch kommt, wird sie in einer Telefonzelle von Charlie mit seinem Gürtel ermordet. Das Herausziehen des Gürtels aus den Gürtelschlaufen der Hose wird zu einer Metapher für Charlies Wandlung zum gefühllosen Mörder.

Als India sich nachts beim Liebesturteln mit ihrem Verehrer aus der Schule zu sehr bedrängt fühlt, ihn wegstößt und er sie darauf hin mit den Worten „Everyone said you are crazy“ vergewaltigen will, taucht Charlie aus der Dunkelheit auf, fesselt den Verehrer mit dem Gürtel, als wäre der in der Psychiatrie, und bricht ihm schließlich mit ebenjenem Gürtel das Genick. Dass hier in kurzen Zwischenschnitten verschiedene Arten des Umgangs mit dem angehenden Vergewaltiger gezeigt werden, und dass India später unter der Dusche im Gedanken an den Mord masturbiert, verstärkt das Traumhafte und Psychologische des Thrillers, der ohnehin mit seinen hochästhetischen Bildern, seiner leicht fragmentierten Erzählweise und der Ruhe, die er ausstrahlt, Psychologie im besten Hitchcockschen Sinn atmet. Womit wir wieder bei der Spinne wären, einer klassisch Freudschen Traummetapher. In Parks Film verweist sie natürlich auch auf das Geheimnis zwischen Charlie und India – doch alles weitere soll hier ein Geheimnis bleiben.

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Stoker | USA 2013 | Regie: Park Chan-wok | Drehbuch: Wentworth Miller | Musik: Clint Mansell | Kamera: Chung-hoon Chung | Darsteller: Mia Wasikowska, Matthew Goode, Nicole Kidman, Dermot Mulroney, Jacki Waver, Lucas Pitts u.a. | Laufzeit: 99 min.