Ferien
Von Christopher Klaese
Über Ihre Angeklagten und Gesetzesbücher weiß Staatsanwältin Vivian Baumann (Britta Hammelstein) vermutlich vieles, doch vom ‚Leben leben‘ versteht sie nichts mehr; wenn sie es denn je verstanden hatte. Mitten in der Gerichtsverhandlung implodiert die durchgeformte Juraabsolventin unter ihrer Robe. Vivian zieht bei Ihrem Freund Adam (Golo Euler) aus und bewohnt wieder die elterliche Couch im Reihenhaus. Doch diese Zeit ist endgültig vorbei und so verschifft sich Vivians Vater (Detlev Buck) mit ihr nach Borkum; mal rauskommen, mal den Kopf freikriegen. Aber das „Bunte Kärtchen mit Lebensvisionen bemalen“-Selbstfindungsprozedere ihres junggebliebenen Hipster-Papas ist nichts für Vivian – und so steigt sie einfach aus. Lässt den nachgereisten Adam die nächste Fähre nehmen, zieht zur alleinerziehenden Hotelputzfrau Biene (Inga Busch) und deren Sohn Eric (Jerome Hirthammer), hilft in Ottos (Ferdinand von Schirach) Trödelladen aus. Und Stück für Stück werden diese FERIEN für Vivian zu einer Rückkehr in das ganze, volle, eigene Leben.
Du hast doch jetzt das Staatsexamen; du weißt doch jetzt so viel!
Ein Film unserer Tage, ein Film zur Lage einer ganzen Generation. Jugendliche Mittzwanziger, ausstudiert und uniform, funktional und abgeschliffen. Zielorientierte Menschbehauptungen ohne moralisch-emphatische ‚Störfaktoren‘ – aber immer mit der latenten Angst im Gepäck, dass einem die Freikarte für den ersten Burnout schon mit dem Masterabschluss ausgehändigt wurde. Auch Vivian hat sich passend machen lassen von einer Gesellschaft, die den Diskurs und das nicht Alltägliche immer mehr in die Nische verfrachtet hat. Doch plötzlich ist da dieses unbestimmte Gefühl, dass das nicht richtig ist. Unkonkret und diffus, aber es bleibt dabei: etwas fühlt sich nicht richtig an. Zwischen Heulanfällen und Unverständnis taumelt Vivian hin und her und weiß doch nicht wohin. Diese Verlorenheit, dieses nicht genau wissen, wo man steht und was man will, gießt FERIEN unbefangen in Filmminuten. Lange hält sich die Kinodebütantin Bernadette Knoller nicht mit der Exposition auf – bereits nach kurzer Zeit lässt sie ihre Protagonistin auf der Suche nach der reinen Ruhe durch die sich wiegenden Schilfdünen auf Borkum wandern.
Meine Vision: ich möchte in Ruhe gelassen werden
Vorsichtig tastend begegnet Vivian Menschen, die noch nicht verlernt haben, so zu sein wie sie sind – ohne Kompromisse an ihre Umgebung, ohne den Drang jemandem gefallen zu müssen. Langsam entkernt sich das eigene Ich, das in der ansonsten zur Selbstoptimierung drängenden Gesellschafft fast ausgetrieben wurde. Warmherzig und behutsam geht der Film auf die Charaktere zu, lässt sie sich entwickeln. Nicht übertrieben, nicht gewollt – es muss nichts fertig werden in diesen Schlaglichtern der Erlebnisse; wie ja im Leben auch nichts wirklich fertig wird. Jeder verändert sich in dieser wie an einer Perlenschnur aufgereihten Kette von Geschichten. Die Gestalten erden sich, um abzuheben. Voll von unzulänglichen Menschen sind diese FERIEN; mithin gescheiterte Existenzen, doch sich immer wieder aufrappelnd. Lauter kleine Miniaturen des ‚sich annähern‘ werden offenbar, ohne auch die Tragik auszuklammern. Je mehr Vivian sich unbefangen diesen Menschen öffnet, umso mehr findet sie zu selbst. Kleinste Lebensweisheiten von denen, die es sich leisten können, in ihrem Alltagsweltkosmos von Weisheit sprechen zu dürfen. Sie weiten Vivians Blick. FERIEN spürt der Vollkommenheit im Unperfekten nach, beschreibt in wundervollen Bildern eine kleine Strecke der einzelnen Lebenswege. Nie geht es ums Ankommen, ein Ziel kann es nicht geben – nur das Erleben will gelebt werden.
Soll ich Dir mal zeigen wie ich nicht schwimmen kann?
Wenn Vivian in der ersten Nacht auf Borkum ein sorgfältig gestaltetes Blumenbeet zerpflügt, von Eric verwundert beobachtet, dann ist diese nonkonformistische Aktion nur der reine Trotz gegenüber dem unaussprechbaren Knäuel Ihrer Gedanken. Viel später, als sie mit dem unoptimierten Eric zaghaft eine Vertraulichkeit gefunden hat, zerpflügen sie den Rest des Beetes gemeinsam – doch diesmal ganz bewusst, aus reinem Vergnügen; in dem Wissen, genauso ist es für uns jetzt richtig. Man merkt der Regisseurin ‚commitment to authenticity‘ an, nur ganz selten macht der Film das tägliche Leben ein klein wenig größer, als es ist. Schönheit in dem, was nicht abgesprochen ist, mit dem Mut zum Unikum. So auch die Schauspieler, allen voran die wundervolle Britta Hammelstein und der unaufgeregte Jerome Hirthammer. Ein ganz und gar unpeinliches Schauspieldebut Ferdinand von Schirachs und einen wandlungsfähigen Detlev Buck gibt es zu vermelden; und Inga Buschs der Welt leicht abhanden gekommene Inselbewohnerin möchte man umarmen.
Wir geh’n mal zum Wal
Am Schluss offenbart der Film noch ein ganz großes Bild, das in seiner universellen Gültigkeit und Ballung von gemischten Gefühlen schöner kaum sein könnte. Ein Bild der Gestrandeten, jedoch nicht Verlorenen, sondern einer kleinen Gruppe von im wahren Menschsein Angekommenen; von Staunenden, die ganz bei sich sind. Und vielleicht sind sie für diesen Augenblick auch versöhnt mit dem Leben, als einem reinen Geschenk von unschätzbarem Wert. Ein Leben, das durch das sich Einrichten im Vorgestanzten nicht einfacher, sondern ärmer wäre. Was uns FERIEN in aller Stille und Ruhe begreiflich machen möchte, ist schlicht, dass das gelebte, erlebte Leben, mit all seinen Facetten und seinen Hochs und Tiefs, keine läppisch-definierende Vision auf bunten Kärtchen braucht – sondern, dass das Leben nur Menschen braucht. Authentische, empfindsame Menschen, die sich trauen, das Leben in seiner wunderbaren Unperfektheit zu lieben und zu leben!
___________________________________________________________
Ferien, D 2016 | Regie: Bernadette Knoller | Drehbuch: Paula Cvjetkovic & Bernadette Knoller | Kamera: Anja Läufer | Musik: Ryan Robinson, Paul Eisenach & A Key is a Key | mit: Britta Hammelstein, Detlev Buck, Jerome Hirthammer, Inga Busch, Ferdinand von Schirach, Victoria Trauttmansdorff | Laufzeit: 89 Minuten (Verleih: DCM Film Distribution GmbH)