Relic

Relic

Von Adrian Gmelch

Mit ihrem Erstlingswerk RELIC legt Natalie Erika James einen kunstvoll inszenierten Horrorfilm vor

Der Horror des Alterns

In den letzten Jahren hat sich (wieder) vermehrt das Thema des Alterns in das Horrorgenre eingeschlichen. Exemplarisch steht hierfür unter anderem M. Night Shyamalan, der mit THE VISIT (2015) und OLD (2021) gleich zwei Filme zum Thema gedreht hat. In THE VISIT müssen es zwei Kinder mit ihren seltsamen, senilen Großeltern aushalten. Von Nacht zu Nacht wird es unheimlicher und verrückter. Und in OLD altern Menschen an einem Strand dermaßen schnell, dass ihr ganzes Leben quasi an einem Tag an ihnen vorbeizieht – bis zum unerbittlichen Tod. RELIC, der erste Spielfilm von Natalie Erika James, 2020 erschienen, erinnert vor allem an Shyamalans THE VISIT: Der Horror entsteht aus dem Alterungsprozess heraus. Graue zerzauste Harre, zusammenhangloses Sprechen, orientierungsloses Herumirren, absonderliche Angewohnheiten – all das trägt bei beiden Filmen maßgeblich zur unheimlichen Atmosphäre bei.

Doch RELIC geht noch intimer an die Sache heran, denn Erika James inszeniert ein emotionales Familiendrama, das gleich drei Generationen umfasst. Es geht um das Älterwerden, um Demenz, um die Akzeptanz des Todes einer geliebten Person, um das Aufeinandertreffen dreier Altersstufen. Als Großmutter Edna auf unerklärliche Weise in ihrem Haus verschwindet, machen sich ihre Tochter Kay und ihre Enkelin Sam auf, sie zu suchen. Im verlassenen Haus finden sie Hinweise auf die zunehmende Demenz von Edna; massenweise Zettel, die überall angeklebt wurden. Kay und Sam richten sich im Haus ein, in der Hoffnung ihre (Groß-)Mutter tauche bald wieder auf. Nach einer Weile kehrt Edna tatsächlich auf ebenso mysteriöse Weise zurück, wie sie verschwunden ist… und damit beginnen auch die Probleme!

Das weibliche Trio aus drei verschiedenen Generationen – Großmutter (Edna), Mutter (Kay) und Tochter (Sam) – wird von Robyn Nevin, Emily Mortimer und Bella Heathcote eindrucksvoll verkörpert. Es gehört definitiv zum Highlight des Films, welcher fast ohne männliche Rollen auskommt. Zwischen den Charakteren entwickelt sich eine intime, teils emotionale, teils verstörende Dreiecksbeziehung, die den Zuschauer in den Bann zieht. Einer der schönsten Momente findet am Ende des Films statt, als Kay ihrer Mutter sozusagen all das Übel (des Alters) sprichwörtlich abstreift, einem Waschen des Leichnams bei einem Beerdigungsritus gleich, und Sam sich dann zu ihr gesellt. Eine intime und zugleich groteske Aufnahme.

Ist das Art-horror?

Auch wenn RELIC nicht die Wucht eines HEREDITARY (2018) oder THE WITCH (2015) hat, so hinterlässt der Film dennoch einen bleibenden Eindruck. Ruhiger, besonnener und blutärmer inszeniert als die genannten Horrorfilme von Ari Aster und Robert Eggers, ist das Werk von Natalie Erika James trotzdem dem Subgenre des Art-horrors zuzuordnen. Die Filmemacherin hat eine zentrale Idee bzw. Thematik – die Beziehung einer Mutter und ihrer Tochter zur an Demenz leidenden Großmutter und deren bevorstehenden Tod –, und hat sich dazu entschlossen, kein „gewöhnliches“ Drama zu drehen, sondern diesen Themenkomplex im Gewand eines Horrorfilms umzusetzen, da dieses Genre ihr am besten geeignet erscheint, um die Geschichte dem Zuschauer möglichst nahe zu bringen. Wie andere Filmemacher auch, die sich jeweils an dieses Genre gewagt haben (die genannten Aster und Eggers, aber auch David Robert Mitchell, Jennifer Kent oder Trey Edward Shults), schreibt Erika James die Geschichten selbst – sie liegen ihr sehr am Herzen. In einem Interview mit Forbes hat sie bezüglich RELIC erklärt: „Es ist eine ganz persönliche Geschichte. … Meine Großmutter war selbst an Alzheimer erkrankt. Ich begann mit dem Projekt, als ich sie besuchte, und es war das erste Mal, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wer ich war … und das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass jemand, der dir immer nur mit Liebe begegnet ist, dich plötzlich wie jemand Fremdes wahrnimmt.“

Darüber hinaus inszeniert Erika James den Horror ästhetisch, für sie liegt in den Bildern des Grauens eine besondere Poesie, eine makabre Schönheit. Das Horrorgenre wird zum kunstvollen Arthousefilm umgewandelt, dabei sieht die Filmemacherin sich vom asiatischen Genrekino beeinflusst: „Im asiatischen Horror gibt es auch eine Dichotomie zwischen Schrecken und Schönheit – dieses Yin und Yang hat mich angesprochen. Und die Art und Weise, wie der Geist oder die Bedrohung etwas ist, für das man Empathie empfindet.“ Nicht zuletzt bietet RELIC auch House-Horror-Filmen eine neue Perspektive: Selten wurde ein die Bewohner „fressendes“ Haus so überzeugend und beängstigend dargestellt. Die dumpfen Töne, die aus dem Inneren, dem Bauch des Hauses, ertönen, sind dabei besonders gelungen – und irritierend.

RELIC ist Erika James erster Spielfilm, davor hat sie zwischen 2011 und 2018 vier Kurzfilme gedreht. Sie ist eine Filmemacherin, auf die man die kommenden Jahre unbedingt achtgeben sollte. To be followed…

Adrian Gmelch ist Autor des Filmbuches „Die Neuerfindung des M. Night Shyamalan“ (Büchner, 2021) und beschäftigt sich vor allem mit dem Horrorgenre im Film.

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Relic | Australien 2020 | Regie: Natalie Erika James | Drehbuch: Natalie Erika James, Christian White | Kamera: Charlie Sarroff | Musik: Brian Reitzell | Darsteller: Robyn Nevin, Emily Mortimer, Bella Heathcote, Chris Bunton, u.a. | Laufzeit: 89 Min.