Bones and all

Bones and all

Von Michael Kathe

Die 17-jährige Maren Yearly (Taylor Russell) hat die gefährliche Leidenschaft, andere Menschen anzuknabbern, auszusaugen oder gar zu essen. Nachdem sie ihrer besten Freundin einen Finger abgebissen hat, flieht ihr Vater mit ihr nach Maryland. Schließlich verabschiedet er sie mit einer Audiokassette und Bargeld und lässt sie zurück. Er kann nicht mit ihrem Vampirismus / Kannibalismus klarkommen – wie seine Frau ist auch Maren ein „Eater“.

Für sie beginnt eine klassische Odyssee durch die USA, auf der Suche nach ihrer Mutter Janelle, während der sie lernen muss, was ihre unmenschlichen Begierden sind, und welche Haltung sie ihnen gegenüber entwickeln will. Sie begegnet dem alten Eater Sully (Mark Rylance). Eine Figur, die zwischen liebenswert und creepy hin- und herpendelt und der sich über die Jahrzehnte etwas seltsam Kultisches angeeignet hat: Er trägt einen Erinnerungszopf bei sich, den er aus den Haaren seiner Opfer zusammenflechtet. Natürlich verleiht dieser Zopf dem alten Sully auch das Gefühl von Macht über die Menschen, denen er ihre Kraft nicht nur ausgesaugt und weggegessen hat, sondern – ganz wie beim biblischen Samson – auch entfernt und als Trophäe angeeignet. Dass er von sich in der dritten Person spricht, zeigt die Spaltung seiner Persönlichkeit, die er vornehmen musste, um sein Leben auszuhalten.

Während Sully und Maren nach dem gemeinsamen Verspeisen einer älteren Frau über Marens Mutter sprechen, ist es vor allem die Filmmusik von Trent Reznor und Atticus Ross, die eine ungemütliche Stimmung schafft – in einer Szene, in der man es eigentlich nicht erwarten würde. Nicht nur Sully scheint etwas Beunruhigendes auszustrahlen, auch Marens Mutter wird als etwas Unangenehmes eingeführt. In derselben Nacht lässt Maren Sully stehen und verschwindet.

BONES AND ALL ist eine Coming-of-Age-Story. In Ohio lernt Maren beim Ladenklau den jungen Lee (Thimothée Chalamet) kennen. Eine gewisse Ambivalenz umgibt auch ihn, schon aussehensmäßig: Ist er mit seinen rot gefärbten Haaren und seinem lumpigen Chic einfach ein Junkie oder eher ein moderner Junge, der sich nicht um traditionelle Rollenzuteilungen kümmert? „Ich will nur klarstellen, dass ich kein Arschloch bin“, sagt er. Lee setzt sich für eine Frau im Supermarkt ein gegen einen Pöbler, mit dem er sich draußen zur Schlägerei trifft – worauf er ihn danach praktischerweise aussaugt. Denn Lee ist auch ein Eater, aber cool, und er bringt nur alleinlebende Menschen um.

Als Maren und Lee die Wohnung des Supermarkt-Opfers aufsuchen, entdeckt er das „Lick it up“-Album von Kiss, „das erste Album, bei dem die Band keine Masken trug“, wie Lee Maren frenetisch erklärt. Darin ist ein Wunsch nach Demaskierung verborgen, Wunsch, entdeckt zu werden und ohne die Scham zu leben. Gleichzeitig vermittelt der Song, den sie anspielen, „Lick it up“, auch einen Wunsch nach Sauberkeit. (Guadagninos Einsatz von Popmusik ist wie immer mit Bedacht ausgewählt.)

Ein Schlüsselsatz der kannibalischen Welt fällt beiläufig von Lee: „Jeder hat seine eigenen Regeln.“ Lee isst nur böse Menschen, Sully würde niemals andere Eater essen – und als Maren und Lee an einem Waldrand die beiden Eater Jake und Brad kennenlernen, verbringen sie einen sehr unangenehmen Abend am Feuer. Jake und Brad sind verantwortungslose Eater, die einfach aus Spaß töten und das Killen und Fressen lieben. Sie essen auch „das ganze Ding, mit Knochen und allem“ („Bones and all“). Als Jake zu Lee sagt „Du erinnerst mich an alle Junkies, die ich kenne“, ist eigentlich klar: Lee und Maren müssen schauen, wie sie der bedrohlichen Szenerie entfliehen können.

BONES AND ALL ist eine Reise der Ausgestoßenen durchs Prekariat, durch eine Welt der Verlierer und Abgehängten. Zeigt, wie auch viele Serienmörder- und einige Vampirfilme, das Leben in einer Welt, in der es keine Gemeinschaft mehr gibt, sondern nur vagabundierende Einzelgänger. In gewisser Weise sehr US-typisch, wenngleich die Schicksale, die dahinter stecken, in der heutigen Abstiegsgesellschaft auch auf Europa zutreffen. Lees Vergangenheit entpuppt sich jedenfalls als verstörend. Maren erfährt von Lees Schwester Kayla (Anna Cobb), das deren Alkoholiker-Vater die beiden Kinder misshandelte, bevor er sie allein ließ.

BONES AND ALL ist also auch eine Reise durch eine Welt, die keine klaren Moralvorstellungen mehr hat. In der es gilt, seine eigenen Moralvorstellungen zu definieren. Als Lee einen Jahrmarktstand-Besitzer tötet und die beiden daraufhin herausfinden, dass er Frau und Kind hatte, reagiert Maren und trennt sich (vorübergehend) von ihm, denn es entspricht nicht ihren fortlaufend neu austarierten Werten. In gewisser Weise denkt sie noch weiter: Als sie sich eines nachts in einem Kuhstall aufhalten, fragt sie Lee: „Hast du dir schon mal überlegt, dass all diese Kühe auch einen Vater und eine Mutter haben?“ Der Gedanke wird nicht weitergesponnen, doch hier wird die Ethikfrage auch auf den Verzehr von Tieren ausgedehnt. Auch Guadagninos Perspektive reflektiert die Frage. Schon während dem ersten Mahl von Maren und Sully, eine ältere Frau, blendet die Kamera die Familienfotos der Frau ein und zeigt, was für ein reiches Leben gerade dem Tod geweiht wird.

Vielleicht sieht Guadagnino in diesem alternativen Prekariat, in dem Kinder den prägenden Eltern entfliehen können und darum junge Männer nicht mehr als Macker funktionieren müssen, eine Chance. Die Chance, vielleicht etwas bessere Moralvorstellungen zu formen und nach denen zu leben. Vielleicht sucht Guadagnino in seinem Coming-of-Age-Film etwas Positives in der großen Traurigkeit der Gesellschaft, vielleicht ist ein Neuanfang möglich. Gerade die USA, dieses Blank Sheet eines freiheitlichen Landes, kann das liefern – nachdem er zuvor in seinem heftigen, überladenen, geschichtsträchtigen, europäischen Horrorwerk SUSPIRIA die Geschichtsschreibung der psychoanalytischen Übertragung überantwortet hat, der ständigen blutigen Wiederkehr des Alten, in stetem Kampf mit dem Neuen.

Was beiden Filmen bleibt, ist die Suche nach der Mutter. Der kannibalischen Mutter in BONES AND ALL, und der kultischen Hexenmütter in SUSPIRIA.

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Bones and All, Italien/USA 2022 | Regie: Luca Guadagnino | Drehbuch: David Kajganich, nach Camille De Angelis | Kamera: Arseni Khachaturan | Musik: Trent Reznor, Atticus Ross | Darsteller: Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance, André Holland, Michael Stuhlbarg, Jessica Harper, Chloë Sevigny u.a. | Laufzeit: 131 min.