Sintflut der Atome (3. Teil)

Sintflut der Atome (3. Teil)

Strukturen des klassischen Doomsday-Films

Von Bodo Traber

III. „Vom Atomzeitalter zum Steinzeitalter.“
(ROCKETSHIP X-M)

1949 zündete die UdSSR ihre erste Bombe in der Arktis und die Gefahr eines zukünftigen nuklearen Weltkrieges wurde greifbare Realität. Das Bild des Morgens, das Tom Drake in THE BEGINNING OR THE END beschworen hatte, in den Visionen nicht nur Hollywoods änderte sich schlagartig. Und während die in Staatsauftrag produzierten Propagandafilme die Auswirkungen der Radioaktivität immer weiter verharmlosten, umzogen in der Science Fiction bereits die ersten Leichentücher ganze Planeten. 1951 erschien in Polen Stanislaw Lems Roman „Die Astronauten“, der 1960 unter dem Titel DER SCHWEIGENDE STERN (RAUMSCHIFF VENUS ANTWORTET NICHT) von Kurt Maetzig für die Defa verfilmt wurde. Darin führt eine in der Wüste Gobi gefundene elektromagnetische Spule außerirdischer Herkunft zur ersten Expedition zur Venus, die unter internationaler Ägide vom friedliebenden Teil der Menschheit durchgeführt wird. An Bord des „Kosmokrator 1“ fliegen unter anderem eine japanische Ärztin (Yoko Tani), die sich noch gut an Hiroshima erinnert, und ein amerikanischer Physiker (Oldrich Lukes), dem das, wozu er mit der Entwicklung der Atombombe beigetragen hat, zu denken gibt, zum Abendstern. Nach langen vergeblichen Versuchen gelingt es den Wissenschaftlern endlich, hinter den Wortlaut der Botschaft zu kommen, die in einer fremden Sprache auf der Spule gespeichert war. Es ist ein Lagebericht der Vorhut einer Invasionsarmee, abgesetzt von einem venusischen Raumschiff, das kurz darauf auf der Erde zerschellt ist – der tunguskische Meteor des Jahres 1908 war in Wahrheit die Explosion eines Raumschiffs. Doch der Botschaft nach hätte die Invasion direkt bevorstehen müssen. Warum sie nie stattfand, erfahren die Kosmonauten, als sie die Venus erreichen. Sie finden die Ruinen einer teilweise geschmolzenen Stadt und eines riesigen nuklearen Waffensystems, mit dem die Venusier die Erde angreifen wollten, das ihnen aber im entscheidenden Moment um die Ohren geflogen ist. Von der gesamten venusischen Bevölkerung ist nichts mehr übrig als ihre Schatten, die durch die unermeßliche Hitze in Wände und Boden gebrannt wurden, die Arme noch wie um Hilfe rufend erhoben. Ihnen war ihre eigene Aggression zum Schicksal geworden.

Schon zehn Jahre zuvor, als Kurt Neumanns thematisch äußerst ähnlich gelagerter ROCKETSHIP X-M (RAKETE MOND STARTET, 1950) den großen SF-Film-Boom des nächsten Jahrzehnts einleitete, war die friedliche Nutzung der Kernenergie schon kein Genre-Thema mehr. Selbst in der SF-Literatur sind die Beispiele für positive atomare Utopien rar gesät, im Paranoia-Film gibt es sie überhaupt nicht, und die Visionen über die mögliche Zukunft der Menschheit wurden immer düsterer. Unter dem Kommando von Karl Ekstrom (John Emery) und seinem Piloten Floyd Graham (Lloyd Bridges) startet das RXM mit insgesamt fünf Besatzungsmitgliedern von Neu-Mexiko aus zum ersten Flug zum Mond. Aber einige Navigationsfehler und ein unerwarteter Meteorschauer drängen das Schiff vom Kurs ab und es verfehlt sein Ziel. Die Überraschung der Astronauten ist groß, als sie feststellen, dass ihre neue Flugbahn sie in die Nähe des Planeten Mars getragen hat. Obwohl sie schon bald den Kontakt zur Bodenstation verloren haben, beschließen die Entdecker eine Landung auf dem roten Planeten, die tatsächlich glückt. Aber die Oberfläche des Mars ist eine finstere, trostlose Wüste. Dann stößt man auf Überreste einer Zivilisation. Ein gigantisches, schon lange zerfallenes Gebäude steht inmitten der desolaten Landschaft; die Astronauten graben metallische Reliquien aus dem Sand; ihre Geigerzähler registrieren eine hohe Reststrahlung. Als sie in der nächsten Nacht plötzlich von kahlköpfigen, degenerierten menschenähnlichen Wesen angegriffen werden, ist ihnen klar, was sich ereignet haben muß: Die Marsianer haben sich in einem atomaren Holocaust selbst vernichtet, ihre weit fortgeschrittene Zivilisation ausradiert. Die mutierten und erblindeten Überlebenden der planetenweiten Katastrophe sind ins Steinzeitalter zurückgefallen. Sie bekämpfen die Eindringlinge mit Steinäxten und Pfeil und Bogen. Zwei der Astronauten finden den Tod, eine Dritter wird schwer verletzt. Den Übriggebliebenen gelingt der Rückstart zur Erde. Aber ihr Treibstoffvorrat ist erschöpft. Als sie wieder in die Erdatmosphäre eintauchen, bohrt sich das Raumschiff wie ein Meteor in den Boden.

Der völlige Zusammenbruch der Zivilisation, der Rückfall in die Primitivität, die Barbarei, die die Menschheit um Jahrmillionen in ihrer Entwicklung zurückwirft, ist ein Topos, der mit der Überzeugung einhergeht, dass mit dem Ende des hohen Entwicklungsstandes auch die kollektive Erinnerung an diesen verlischt. An die Stelle von Aufklärung und Wissen treten wieder Ritus und Aberglaube, die darwinistischen Urinstinkte in uns brechen unter der Oberfläche hervor. Was etwa in Peter Brooks Verfilmung von William Goldings klassischem „Insel“-Experiment LORD OF THE FLIES (HERR DER FLIEGEN, 1963) durchgespielt wird, ist eben dieser Wegfall sämtlicher sozialer Strukturen wie technologischer Errungenschaften, der mit dem Ende der Welt über die Menschen kommt. Ein Flugzeug mit einer Schulklasse voll Jungen aus einem Eliteinternat an Bord, die nach Ausbruch des Dritten Weltkriegs in ein sicheres Land gebracht werden sollten, stürzt über dem Meer ab. Die Kinder können sich auf eine einsame Insel retten und versuchen die erste Zeit, ein geordnetes Sozialleben aufrechtzuerhalten, Nahrungsmittelbeschaffung und Unterkunft zu organisieren, um auszuhalten, bis Hilfe kommt. Aber je deutlicher wird, dass die Rettung, auf die sie hoffen, vielleicht nie eintreffen wird, desto unaufhaltsamer fallen sie in die Barbarei zurück. Es kommt zur Bildung von Clans, die eigenen Riten zu folgen beginnen, im Kampf miteinander Kriegsbemalung anlegen und sich in Felle kleiden. Die „wildere“ der beiden einander bekämpfenden Gruppen betet den „Herrn der Fliegen“, einen auf einen Pfahl gesteckten Eberkopf, an. Es kommt zum ersten Mord. Als Ralph (James Aubrey), der letzte Vertreter der Vernunft, allein dasteht, beginnen ihn die anderen wie ein Tier durch den Dschungel zu jagen. Dann steht plötzlich das Rettungskommando am Strand, die Zivilisation hat die Kinder wieder, und der ganze Spuk ist schlagartig zu Ende. Die eben noch Wilden geben sich wieder als brave englische Schuljungen. LORD OF THE FLIES ist nicht allein ein Essay über die Abhängigkeit von Moral und Repression voneinander, er bringt auch zum Ausdruck, dass Zivilisation – und Demokratie – lediglich etwas Antrainiertes sind, das in dem Augenblick wie Tünche abbröckelt, in dem Institutionen, die zu ihrer Durchsetzung dienen, verschwinden. „Wenn die Zivilisation wieder zivilisiert wird, schließe ich mich ihr wieder an!“ sagt auch Ray Milland in dem von ihm selbst inszenierten PANIC IN YEAR ZERO! (PANIK IM JAHRE NULL, 1962) in der Rolle des bisher harmlosen Durchschnittsbürgers Harry Baldwin. Er ist mit Frau (Jean Hagen) und Teenager-Kindern (Frankie Avalon und Mary Mitchell) eines schönen Morgens um Fünf zum Angelausflug in die Sierras losgefahren, als hinter ihnen plötzlich ein Atompilz über Los Angeles aufstieg. Nach anfänglichen Versuchen, „vernünftig“ auf das Ereignis zu reagieren, wird Harry schnell klar, dass er sich und seine Familie nur schützen und am Leben erhalten kann, wenn er sich mindestens ebenso rücksichtslos aufführt, wie es die anderen Leute auch bald tun werden, und möglichst noch vor ihnen damit anfängt. In einer kleinen Ortschaft versorgen sie sich mit Bergen von Lebensmitteln, Ausrüstung zum Kampieren in den Bergen und Waffen. Als ihm das Geld ausgeht, zwingt er den Verkäufer mit vorgehaltener Pistole zur Herausgabe der Waren. Später, als sie sich in einer Höhle in den Bergen verstecken, erklärt er, auf jeden Fall ein menschenwürdiges Leben weiterführen zu wollen und sich zum Beispiel nach wie vor jeden Tag zu rasieren. Am Tag darauf legt er zwei Plünderer kaltblütig um, die seine Tochter vergewaltigt haben. Als er seiner Frau seine Gewissensbisse wegen des begangenen Akts von Lynchjustiz klagt, tröstet sie ihn. Er habe keine Wahl gehabt. Außerdem hatten es die Kerle nicht anders verdient. Sie hatten schon ein anderes junges Ehepaar ermordet und Harry und sein Sohn haben in dem Farmhaus, in dem sich die Ratten verschanzt hatten, ein Mädchen gefunden, das dort gefangengehalten worden war. Erst als sein Sohn von einem dritten Plünderer angeschossen wird und zu verbluten droht, ist Harry bereit, in eine der umliegenden Städte zurückzufahren, um einen Arzt zu suchen. Nachts auf der Straße werden sie wieder mit Waffengewalt zum Anhalten gezwungen. Doch zu Harrys und seiner Familie Erleichterung sind es Soldaten der Army, die in der Nähe ein Auffanglager für Überlebende eingerichtet haben. Die Staatsstrukturen beginnen, langsam wieder zu funktionieren. Und genau wie die Kinder in LORD OF THE FLIES schließen sich die Baldwins der sanktionierten Gesellschaft sofort wieder an.

PANIC IN YEAR ZERO! beruht auf den Erzählungen „Lot“ und „Lot’s Daughter“ von Ward Moore, die den Auszug eines neuen Exodus aus dem atomar verseuchten L.A. wie aus der biblischen Stadt Sodom beschreiben, bei dem der Protagonist auch seine Familienstrukturen aufgibt. Millands Film hingegen sieht in der Kleinfamilie den eigentlichen Kern der modernen menschlichen Kultur. Jack Shaheen („Nuclear War Films“, nach Bill Warren) weist darauf hin, dass hier Moral und gesellschaftliche Norm nur noch die Funktion haben, die Familie zu erhalten. Alles, was zum Überleben der Familieneinheit beiträgt, ist moralisch richtig oder zumindest entschuldbar. Und Warren fgt hinzu: „Der Film scheint zu erklären, dass (sobald die Armee das Kommando wieder übernimmt) alles wieder in Ordnung kommen wird. Die Armee ist kontrollierte, geleitete, kanalisierte Gewalt, und sie ist Gewalt, der wir vertrauen können. Die Soldaten mögen Waffen tragen, aber sie sind die Verteidiger von Herd und Heim.“

Als die Baldwins aus den Bergen zurückkehren, sind die Kampfhandlungen ein- und die Kalender zurückgestellt worden. Nun, im „Jahr Null“, bekommt die menschliche Zivilisation die Chance zu einem Neuanfang, und die gesellschaftliche Zelle der Kleinfamilie gliedert sich wieder in das größere Ganze ein. Tatsächlich unterscheiden sich die Verhaltensweisen der Familie Baldwin nur im Grad der Radikalität von denen der Clan-Kinder in LORD OF THE FLIES. Sowohl Harrys Kleinfamilie als auch der Stamm der den „Herrn der Fliegen“ verehrenden jungen Wilden sind in sich geschlossene Gesellschaftsformen, denen jedes Mittel recht ist, um ihre Existenz zu verteidigen. Nur verstehen wir die Gesellschaftsform der Familie als vereinbar mit, womöglich gar als die Grundkonstante der menschlichen Kultur, während die in die Barbarei zurückfallenden Kinder einen Gegenentwurf exerzieren, der Zehntausende von Jahren Entwicklung als etwas der Natur Widersprechendes zu entlarven scheint. Im Vergleich von Peter Brooks Film mit dem Ray Millands stellt sich die Frage, was letzten Endes siegen wird, wenn gesellschaftliche und moralische Normen nicht mehr existieren und die Rettung des Status Quo durch die uniformierten Obrigkeitsorgane ausbleibt – die Kultur oder die Natur.

Eine Antwort darauf liefert Roger Cormans minimalistischer TEENAGE CAVEMAN / PREHISTORIC WORLD (1958), der seine eigentliche Idee hinter einer Fake-Geschichte mit Schlussüberraschung verbirgt. Irgendwann in der Steinzeit: Ein primitiver Stamm lebt in einer dünn bewachsenen, felsigen Gegend an einem Fluss; in einer friedlichen Gemeinschaft, die sich offenbar schon seit Jahrzehnten oder noch länger bewährt hat. Der Symbolmacher (Leslie Bradley), der auch die Chronik der Jahre in Zeichnungen an den Wänden seiner Höhle führt, wacht über die Gesetze, die von Alters her überliefert wurden. Drei weise Männer hüten die Schätze der Menschheit: Das Feuer; das Ding, das sich dreht; und wie man aus Erde Töpfe macht. Auf den Bruch eines bestimmten Gesetzes steht sogar die Todesstrafe: Das Land jenseits des Flusses zu betreten. Denn dort gibt es schreckliche Ungeheuer; Sand, der Menschen ißt; und den Gott, der mit seiner Berührung tötet. Aber wie alle Jungen stellt auch der Sohn des Symbolmachers (Robert Vaughn) die Gesetze der Alten in Frage, sieht er doch, dass das Land jenseits des Flusses eine viel üppigere Vegetation aufzuweisen hat und man dort sicher auch mehr Jagdwild findet als auf dieser öden, fast unbewachsenen Seite. Mit ein Paar Freunden wagt er sich eines Nachts über den Fluss, um zu jagen. Und tatsächlich stoßen sie auf einige Monster und letzten Endes auf den Gott, der mit seiner Berührung tötet. Als sie nach Hause fliehen, wird ihnen der Gesetzesbruch noch einmal verziehen, und das gewohnte Leben nimmt seinen Gang. Jahre später jedoch kommt ein Reiter aus der „verbotenen Zone“, den die erschrockenen Stammesmitglieder töten, ehe er sich mitteilen kann. Er stirbt mit dem Wort „Frieden“ auf den Lippen. Die Neugier des Jungen ist wieder geweckt. Wieder überquert er heimlich den Fluss, stößt auf den Gott, der mit seiner Berührung tötet. Die Gestalt bricht vor ihm zusammen. Es ist ein sehr, sehr alter Mann in einem Schutzanzug, dessen Radioaktivität im Lauf der Jahrzehnte abgeklungen ist. Bei sich trägt er ein Buch, das Bilder von großen Städten zeigt. Es ist lange her seit dem Weltuntergang.

Hier etabliert sich etwas, dem man auch in den Relikten, die die Astronauten des ROCKETSHIP X-M auf dem Mars oder die Kosmonauten des „Kosmokrator“ auf dem SCHWEIGENDEN STERN finden, begegnet: Die Legende von der Zivilisation. Ehemals rationale Tätigkeiten werden zu religiösen Riten, logische Regelungen des täglichen Lebens zu sinnentleerten Gesetzen. Das Motiv von der „verbotenen Zone“, die nach offiziellem Bild Tod und Vernichtung, in der Vorstellung der hedonistischen jungen Generation aber ebenso Wissen und Offenbarung verheißt, zieht sich vom biblischen Apfel vom Baum der Erkenntnis bis in die moderne Science Fiction, bis hin zu Andrej Tarkowskijs STALKER (STALKER, 1979) nach dem Roman „Picknick am Wegesrand“ der Gebrüder Strugatzkij, in dem sich der Kreis von Religion zu Wissenschaft zu Religion wieder schließen wird.

Foto HERR DER FLIEGEN: Concorde Home Entertainment. Fotos RAKETE MOND STARTET und PANIK IM JAHRE NULL: Anolis Entertainment.