Ein Bulle sieht rot

Ein Bulle sieht rot

Von Gerd Naumann

Warum das Œuvre des Franzosen Yves Boisset großteils in Vergessenheit geriet, ist ein Rätsel. Boisset, der für sein berückend melancholisches Kriminaldrama UN TAXI MAUVE (1977) in Cannes für die Goldene Palme nominiert war, ist nur vordergründig ein Unterhaltungsregisseur. Wie große Kriminal- und Thrillerliteraten vom Schlage Raymond Chandlers oder Jean-Patrick Manchettes beherrscht er die Kunst, kontroverse Themen und politische Ansichten so aufzubereiten, dass dem Publikum die bittere Pille der Erkenntnis versüßt wird. Wer erleben darf, wie das Actionurgestein Lee Marvin in CANICULE (1984) zur Demaskierung und Demontage filmischer Gangstermythen herangezogen wird, oder wie Michel Piccoli als schmieriger Showmaster in der dystopischen Zukunftsvision LE PRIX DU DANGER (1983) brilliert, dem offenbart sich eine gänzlich andere, desruptive Weltsicht.

ein.bulle.sieht.rot.1970.coverBoissets Frühwerk UN CONDÉ, (1970) so der Originaltitel von EIN BULLE SIEHT ROT, vertritt diese Weltsicht noch vehementer. So deutlich, dass das Werk in Frankreich einige Zeit verboten und nur unter Schnittauflagen für den Spielbetrieb zugelassen wurde. Unverkennbar waren die Anspielungen auf zeitgenössische Diskussionen um Polizistenwillkür und Folter in französischen Gefängnissen… Solche Methoden wendet Kommissar Favenin an, und stellt sich damit nicht nur gegen die Dienstanweisung seines Vorgesetzten, sondern auch über Recht und Gesetz. Mit kaltblütiger Berechnung nimmt der vor kurzem noch strafversetzte Staatsbedienstete die Ermittlungen in einem Mord- und Erpressungsfall auf. Favenin erkennt, dass einem Mordverdächtigen mit rechtlichen Mitteln nicht beizukommen ist, zumal dieser ein hohes politisches Amt anstrebt. Von blinder Wut getrieben, nimmt er die zu Unrecht verdächtigten Freunde Dan und Viletti ins Visier, die ihrerseits ein persönliches Interesse daran haben, den für den Mord verantwortlichen Auftraggeber zur Strecke zu bringen. Die Grenzen zwischen Opfer- und Täterschaft verschwimmen, immer mehr verliert der Kommissar den Bezug zur Lebenswelt und greift zu rabiaten Methoden…

Nach wie vor überrascht die Kompromisslosigkeit, mit der Boisset seine Figuren gegeneinander ausspielt, irritiert die entmenschlichte Härte des von Bernard Fresson beängstigend intensiv gespielten Kommissar Favenin. Dieser Beamte, dem klischierten Typus eines Buchhalters ähnelnd, ist die fleischgewordene Entsprechung eines Sicherheits- und Überwachungsstaates. Gegenüber dieser lehnt sich der von Gianni Garko mit ungebrochener Kraft verkörperte Dan auf. Dessen Standfestigkeit im Angesicht von Folter und Erniedrigung machen ihn zu einem modernen Widerstandskämpfer gegen die Staatsgewalt. Eine versöhnliche Position nimmt die von Adolfo Celi verkörperte Figur des Polizeichefs ein, dem es jedoch nicht gelingt, dem Handeln des entgrenzten Kommissars Einhalt zu gebieten.

Nach jahrzehntelanger Indizierung ist der ebenso packende wie kontroverse Kriminalfilm nun endlich wieder frei erhältlich. Motion Picture hat diese Lücke erfreulicherweise geschlossen; die DVD-Edition bietet den Film in guter Qualität, wahlweise mit deutschem und französischem Ton. Als besonderes Extra beinhaltet die Scheibe die separat anwählbare italienische Exportfassung. So wunderbar es ist, dass EIN BULLE SIEHT ROT nach viel zu langer Zeit wieder frei in Deutschland verfügbar ist, so schmerzlicher wird bewusst, dass ein Großteil des Schaffens von Boisset noch immer einer adäquaten Wiederveröffentlichung harrt. Hoffen wir deshalb, dass diese DVD nur ein Anfang für die Wiederentdeckung des Filmemachers ist.

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Un Condé, Frankreich/Italien 1970, Regie: Yves Boisset, Mit: Gianni Garko, Adolfo Celi, Françoise Fabian, Bernard Fresson, Anne Carrère, Rufus, Michel Constantin u.a.

Anbieter: Motion Picture