Hüter der Erinnerung – The Giver

Hüter der Erinnerung – The Giver

Von Caroline Lin

In der von DIE TRIBUTE VON PANEM ausgelösten Flut aktueller YA-Teenzielgruppen-Dystopien unterscheidet sich die Adaption von Lois Lowrys bereits 1993 erschienenem Kinderbuch (!) „Hüter der Erinnerung“ nur marginal von Werken wie DIVERGENT und THE MAZE RUNNER. Außer im emotionalen Gehalt: Auch wenn der Plot sehr mechanisch abläuft, ist die Hymne an die Freiheit des menschlichen Gefühlserlebens berauschend.

Der 16-jährige Jonas lebt in einem properen Stadtplateau über den Wolken, wo Krieg und Leiden, aber auch Emotionen und Spaß eliminiert sind, damit sich Katastrophen nicht wiederholen. Dann wird er in einer Zeremonie auserwählt, vom alten „Giver“ die geheime, schmerzvolle Geschichte der Welt zu lernen.

the.giver.2014.coverIm Grunde hat Phillip Noyce (LONG WALK HOME, SALT) ein FLUCHT INS 23. JAHRHUNDERT-Remake mit reichlich PLEASANTVILLE-Anleihen veranstaltet. In einer sanften Big-Brother-Welt, die sich als falsches Paradies entpuppt, wo mit Pillen Individualität verboten und Konformität erreicht wird, erzählt Noyce Platons Höhlengleichnis in einem Idyll, das alle Erinnerungen an davor und damit die Farbwahrnehmung abgeschaltet hat.

Damit wandelt sich das Schwarzweiß der gedimmten Emotionen in eine wahre Farbenpracht: Wenn der Mentor (Co-Produzent Jeff Bridges, zuletzt in R.I.P.D.) seinem Schützling (Brenton Thwaites aus OCULUS und THE SIGNAL) telepathisch in überwältigenden Visionen die Menschheitserinnerungen lehrt, strömen diese Wunder von Glück und Leid, Krieg und Liebe ungefiltert wie reine Magie auf den Zuschauer ein.

Jonas soll vollenden, woran seine Vorgängerin (Cameo von Country-Popstar Taylor Swift am Flügel) scheiterte, weil sie am Leid der Welt verzweifelte: Ausbrechen und in einer langen Pilgerreise zur Menschheit heimkehren. Dem träumerisch schön-schrecklichen Erkenntnis-Schock, der seine Menschwerdung auslöst, stehen die repressiven Manipulationen des Oberhaupts (Meryl Streep, neulich noch IM AUGUST IN OSAGE COUNTY) entgegen.

Ein roter Apfel, in den Jonas seine tägliche Drogeninjektion lenkt, symbolisiert als Element der Aufklärung diese Vertreibung aus einem vermeintlichen Garten Eden, der Mord nicht eliminiert, sondern kultiviert hat; eine totale sichere Gummizelle, die sich in etwas zähen Wortwechseln auflöst. Action und Effekte packen nicht, Intention und Story schon, speziell wenn alle Gefühlsempfindungen in einem Tsunami zurückkommen.

Erschienen auf Komm & Sieh

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The Giver, USA 2014 | Regie: Phillip Noyce, Buch: Michael Mitnick, Robert B. Weide , Buchvorlage: Lois Lowry | Mit: Brenton Thwaites, Jeff Bridges, Meryl Streep, u.a. | Laufzeit: 97 Minuten, Verleih: Studiocanal (Kinostart: 02.10.2014).