NIFFF 2023: Superposition

NIFFF 2023: Superposition

Von Michael Kathe

Ein dänisches Paar verbringt seine Ferien in Schweden. Mit ihrem kleinen Jungen. Inmitten der schwedischen Wälder in einem eleganten Haus am See. So weit ab vom Schuss, dass selbst der Autoradio-Empfang wegfällt. Das soll so sein, denn für das in hyggeligem (dän. für gemütlichem), schlichtem Design gekleidete Paar Stine (Marie Bach Hansen) und Teit (Mikkel Boe Folsgaard) sind die Ferien ein Projekt, das Abgeschiedenheit voraussetzt. Er, der Journalist, hat einen gemeinsamen Podcast in totaler Einsamkeit initiiert, in dem er mit ihr, der Autorin, frei von Außeneinflüssen über beider Gefühle sprechen will. In völliger Ehrlichkeit.

Doch bei so einem Projekt in totaler Abgeschiedenheit tun sich selbst in den besten Partnerschaften ungeahnte Gräben auf. Nicht nur, dass der kleine Junge so ganz allein nach besonderer Aufmerksamkeit giert und die Rückzugsromantik des Paares schon mal auf die Probe stellt, Stine und Teit sind auch ohne Kinderprobleme vor dem Mikrofon schnell gefordert. Stine beschuldigt ihren Mann alsbald, dass er unliebsame Wahrheiten ausblende, weil sie sich im Podcast nicht so gut machen. Sie, die Autorin, will wirklich absolute Ehrlichkeit. Neben den (eher erwartbaren) Zweifeln an der Treue des Mannes ärgert sich Stine darüber, dass sie am gegenüberliegenden Seeufer andere Menschen entdeckt hat und spricht das im Podcast an. Weil aber absolute Einsamkeit der Selling-Point des Podcasts ist, will Teit das verschweigen.

Die unerkennbaren, fremden Gestalten auf der anderen Seite des Sees bringen das Gefüge mehr als erwartet durcheinander. Als Stine mit klein Nemo (Mihlo Olsen) im Wald spielt, entdeckt sie plötzlich hinter einem Baum eine andere Frau. Sie will auf sie zugehen, doch die Frau versteckt sich. Stine folgt ihr, lässt Nemo einen Moment allein und findet nicht nur die geheimnisvolle Frau nicht, sondern muss nach ihrer Rückkehr auch Nemo suchen. Dass sie Nemo einfach so in den ewigen Wäldern Schwedens allein ließ, verschweigt sie ihrem Mann, solange sie kann. Erst als sich Nemo zunehmend aggressiv verhält und so permanent wie penetrant behauptet, sie sei nicht seine Mutter, gesteht sie ihre Unehrlichkeit auch Teit ein.

Was geschieht, als sich die Fremden vom anderen Seeufer annähern, birgt einen wundervollen Gruselmoment, so überraschend wie klassisch psychoanalytisch, und es entspinnt sich ein raffiniertes Spiel mit Doppelgängern, in dem das Freudsche „Unheimliche“ zum Tragen kommt. Doch Regisseurin Karoline Lyngbye geht in ihrem Film über die Horrorelemente hinaus, in denen Fremde ins Heim eindringen und genau die wunden Punkte der scheinbar so souveränen Lebensentwürfe offenlegen. Denn sobald sich Stine und Teit klar werden, dass sie in gewisser Weise sich selber begegnen, beginnt ein perfides Spiel um veränderte Lebensentwürfe. Man kriegt also eine gute Dosis Bergman dazu, Katharsis inbegriffen, aber nicht um einen einfachen Preis…

In der Quantenphysik ist der Zustand der Superposition der Zustand der Überlagerung aller möglichen Einzelzustände. Am Beispiel des Quantencomputers: Ein Zustand, in dem die Ionen weder eine 0 noch eine 1 sind, sondern beide Zustände überlagern und alle Möglichkeiten von Zuständen zulassen. Erst beim Hinsehen nehmen die Qbits einen bestimmten Zustand an. Diese Setzung überträgt Lyngbye gekonnt in die psychische Welt der beiden Erwachsenen und involviert uns damit auch in eine Geschichte des Hinsehens. Wer hinsieht, fixiert einen psychischen Zustand in einem fluiden Ausnahmezustand. Einem besonderen Ausnahmezustand, den Teit im Absender seiner Briefcouverts an die Redaktion mit „Paradies“ beschreibt. War nicht das biblische Paradies ebenfalls ein offener Zustand, in dem noch alles möglich war?

Lyngbye’s Erstling SUPERPOSITION ist zwar noch kein Meisterwerk, aber ein äußerst gelungener, spannender Art Horror-Film, der reine Horrorfreaks etwas langweilen könnte, aber als psychologische Spielerei überzeugt.

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Superposition, Dänemark 2023 | Regie: Karoline Lyngbye | Drehbuch: Karoline Lyngbye, Mikkel Bak Sorensen | Kamera: Sine Vadstrup Brooker | Musik: Pessi Levanto | Darsteller: Marie Bach Hansen, Mikkel Bo Folsgaard, Mihlo Olsen | Laufzeit: 105 min.

Der Film lief am Neuchâtel International Fantasy Film Festival 2023