NIFFF 2023: Tropique

NIFFF 2023: Tropique

Von Michael Kathe

Die Brüder Lazaro und Tristan Guerrero sind Übermenschen. Oder kommen dem zumindest so nahe, wie „normale“ Menschen dem kommen können. Die Brüder sind Astronauten-Anwärter für das europäische Weltraumprogramm und leben und trainieren im Ausbildungszentrum in Französisch-Guayana, das direkt neben dem Militärstützpunkt liegt. Ausgewählt werden sollen nicht einfach gewöhnliche Astronauten, sondern zukünftige Erstbewohner eines bewohnbaren anderen Planeten. Das ist das „Eternity Project“.

Dass sich der Film in der Zukunft des Jahres 2041 in einer Welt der Ressourcenknappheit abspielt, ist ihm allerdings kaum anzumerken. Vielmehr ist die Zukunft so nah, dass wir uns eigentlich in einer tristen Gegenwart wiederfinden. Trotzdem wirkt die Szenerie von TROPIQUE auf beste Weise fremdartig. Wir befinden uns am Meer mitten in einer tropischen Zone, in der die beiden Brüder hin und her pendeln zwischen dem hypermodernen Ausbildungszentrum, in dem sie allerlei Tests unterzogen werden, und dem heruntergekommenen Häuserblock, in dem sie in bescheidenen Verhältnissen leben. Immer wieder hört man Kampfjets über Häuser und Regenwald pfeifen.

Die alleinstehende Mutter Mayra (Marta Nieto) leidet unter ihrer Einsamkeit. Sie hat ihr soziales Umfeld in Frankreich aufgegeben für die Karriere ihrer Söhne und lebt mit ihnen in einer kleinen Zweieinhalb-Zimmer- Wohnung. Die Brüder teilen sich ein Zimmer, in dem abends ohnehin für nichts anderes Zeit bleibt als höhere Mathematik oder Physik zu studieren. Lazaro (Pablo Cobo) und Tristan (Louis Peres) sind sich sehr nahe, haben eine sehr enge emotionale Bindung. Sie verstehen sich bestens und helfen sich gegenseitig, wo immer sie können. Wenn es etwa darum geht, möglichst lange unter Wasser zu tauchen und der eine von beiden nach 6 Minuten als drittletzter auftauchen will, versucht der andere ihn unten zu halten, damit beide den Tauchtest als Klassenbeste abschließen können.

Das Unterwassertraining ist Sinnbild für den harten Konkurrenzkampf – und für die Leidenschaft der beiden. Oft üben die Brüder nachts in einer kleinen Bucht in der Nähe ihrer Wohnung spielerisch weiter. Das ist auch eine Demonstration ihrer Willensstärke, ihrer Fokussierung, aber auch ihres Wunsches, sich der gnadenlosen Wettbewerbsethik der Raumfahrtbehörde zu unterwerfen. Und genau da geschieht das nächtliche Unheil: Die beiden befinden sich unter Wasser, als sich ein seltsamer, leuchtend grüner und giftiger Regen (ein Weltraummeteorit) aus dem Weltall ins Meer ergießt und die Bucht kontaminiert: Lazaro kann sich noch unversehrt an Land retten, doch Tristan wird erwischt und in der Folge führen seltsame Hautblasen zu einer körperlichen und geistigen Behinderung.

Das Supermenschen-Brüderpaar ist damit endgültig zerbrochen. Mehr noch, Lazaro und Tristan müssen nun Wege finden, wie sie miteinander auskommen. Tristan muss sich neu orientieren und beginnt, mit den anderen Outcasts einer Sonderschule auf demselben Campus abzuhängen und nichts zu tun. Lazaro fühlt sich von Tristan betrogen, und verliert nach und nach die Energie und den Willen, sich am Eternity-Programm zu beteiligen. Sollte auch er es nicht schaffen, waren die ganzen Opfer für Mutter Mayra umsonst.

So wendet Regisseur Edouard Salier den Film plötzlich in ein Drama der inneren Konflikte. Vor allem Lazaro, dem der Verlust des Bruders im Weltraumprogram den emotionalen Boden entreisst, sieht sich plötzlich ganz anderen Konflikten ausgesetzt. Soll er überhaupt in den Weltraum, so allein ohne seinen intimsten Freund? Bei Salier wird die Idee des „Eternity“-Projekts zu einer Metapher für das ewige Zusammensein von (zwei) Menschen. Der Wunsch, die Ewigkeit zusammen zu verbringen, wo doch die Realitäten das Leben immer wieder neu sortieren. Gleichzeitig wird TROPIQUE auch zur Metapher des menschlichen Strebens und des technischen Fortschritts, durch die menschliche Werte aus dem Blick geraten.

Eingebettet vom ergreifenden Synthesizer-Soundtrack Sébastiens und den leicht fremdartigen Tropenbildern von Kameramann Mathieu Plainfossé schafft Salier einen sehenswerten Film, der die Ambiguität zwischen hohen Zielen und dem Wunsch nach größter Nähe auf eine verfremdete, aber berührende Weise umsetzt.

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Tropique, Frankreich 2022 | Regie: Edouard Salier | Drehbuch: Mauricio Carrasco, Edouard Salier, Thibault Vanhulle | Kamera: Mathieu Plainfossé | Musik: Sebastian Akchoté | Darsteller: Pablo Cobo, Louis Peres, Marta Nieto, Marvin Dubart u.a. | Laufzeit: 111 min.

Der Film lief am Neuchâtel International Fantasy Film Festival 2023