Absolutes Fiasko: Woodstock ’99
Von Shamway
Brände, explodierende Propangasflaschen, Tote, Fäkalien im Trinkwasser, gewalttätige Auseinandersetzungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und am Schluss benötigte das Festival den Großeinsatz der Polizei und der National Guard. Das Woodstock-Jubiläumskonzert 1999, auch „Woodstock 3“, war ein völliges Desaster! In Europa ist wenig bekannt, dass das dreitägige Festival 1999 in Rome, New York, mit seinen 250 000 Besuchern völlig aus dem Ruder lief. Die dreiteilige Netflix-Dokumentations-Serie arbeitet das auf und zeigt all die wüsten Bilder dazu.
Am Anfang der Planung stand die Idee des naiven Ur-Woodstock-Organisators Michael Lang, der bis zum Ende seines Lebens noch behauptete, dass Woodstock III nicht so schlimm gewesen sei, und des gewinnorientierten Unternehmers John Scher. Was dabei herauskam, war allerdings nicht das Love & Peace Festival, als das es sich verkaufte. Im Gegenteil.
Am Anfang des Dramas stand die radikale neoliberale Abzockermentalität der Organisatoren. So wurden etwa schon am Eingang zum Festivalgelände dem Publikum alle persönlichen Wasserflaschen abgenommen, um den privaten Lieferanten auf dem Gelände mehr Verkäufe zu garantieren. Die Lieferanten besaßen zudem alle Freiheiten zur Preisgestaltung, die Organisatoren durften nicht mehr einschreiten. Und dann das: Wasser geriet in der Hitze des asphaltierten Militärgeländes derart zum raren Gut, dass sich die ohnehin schon hohen Preise vervielfachten. Insbesondere, weil die Hitze ab dem zweiten Tag ein unerträgliches Maß erreichte und die Organisatoren keine Schattenplätze bereitstellten (oder bereitstellen konnten).
Weil beim Putzteam massiv gespart wurde, entwickelte sich ab dem zweiten Tag nicht nur ein an Neapel erinnerndes Auftürmen und Herumliegen von Abfällen, auch die viel zu wenigen Toiletten waren alsbald verstopft und verschmutzt. Mehr noch: Die Fäkalien aus den Toiletten gelangten ins Duschwasser, so dass Abkühlung und die letzte Möglichkeit von Gratis-Trinkwasser einen derart schlechten Beigeschmack bekamen, dass schon am zweiten Tag die ersten Vergiftungsopfer die Sanität aufsuchten. Dieser Umgang mit dem lebensnotwendigen Gut Wasser bei Temperaturen von 38° C ist auch ein kleines neoliberales Lehrstück. Nicht das einzige.
Über all dem stand auch eine Message, mit der die Verhältnisse verschleiert wurden. Die verlogene Love & Peace Botschaft über der gnadenlosen Abzockerei befeuerte die Widersprüche noch zusätzlich. Frauen, die oben ohne mit bemalten Brüsten herumliefen, wurden eingekreist und belästigt. Eine Frau antwortete MTV auf die Frage, was für ein Gefühl sie nach dem Bodysurfen über dem Publikum habe: „Now I hate all Men.“ Die Security hatte weder das Know-how noch die Motivation, dem Mob etwas entgegen zu setzen. Es handelte sich um viel zu wenige und im Eiltempo angeheuerte Jungs ohne Ausbildung, denen man gerade mal 500 Dollar für drei Tage auszahlte und die mit der zunehmenden Aggressivität völlig überfordert waren. Keine Profis. Ironischerweise stand auf dem Rücken ihrer Shirts „Peace Patrol“.
Und als ob die Friede, Freude, Eierkuchen-Symbolik nicht schon genug Unheil angerichtet hätte: Zum Ende des dritten Tages kündigten die Organisatoren eine große Überraschung an. Alle erwarteten einen wirklich großen Zusatzact, von Michael Jackson bis Bob Dylan war die Rede, doch die Idee der Organisatoren war (nur), 100 000 Kerzen zu verteilen und auf der Leinwand einen Film von Jimi Hendrix laufen zu lassen. Das war der Moment, in dem die längst außer Kontrolle geratenen, aggressiven Zuschauer alles in Brand setzten. Lautsprechertürme, Absperrungen und sogar die Lastwagen, in denen Propangasflaschen lagerten. In dieser Szenerie fiel den Red Hot Chili Peppers nichts anderes ein, als Jimi Hendrix‘ „Fire“ zu spielen.
Überhaupt, die Musiker. Das Line-up war so gar nicht Love & Peace, sondern die damals so populären Nu Metal-Bands – und weder KoRn noch die Chili Peppers noch Kid Rock engagierten sich für eine Deeskalation. Lediglich der Sänger von The Offspring forderte einmal, dass die Belästigung von Frauen aufhören sollte. Am skandalösesten zeigte sich jedoch Sänger Fred Durst von Limp Bizkit. Er stachelte das Publikum regelrecht zu Aggression an („Anstiftung zu Straftaten“) und vor seinen Augen soll eine Frau von mehreren Männern vergewaltigt worden sein.
Alles andere ist unbedingt in der Doku nachzusehen.
Der Film ist ein Lehrstück dafür, wie schnell die Verhältnisse aus dem Ruder laufen können, wenn ein Credo über allem anderen steht: „Es war die Gier.“ So nennt es der jüngste der Mitorganisatoren, John Rosenblatt. Also genau das, was die Gesellschaft auch heute noch auszeichnet – aber jetzt mit anderen darübergestülpten ideologischen Mäntelchen, z.B. denen von QAnon.
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Trainwreck: Woodstock ’99, USA 2022 | Regie: Jamie Crawford | Laufzeit: 3×50 min.
Anbieter: Netflix
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