The Innocents

The Innocents

Von Michael Kathe

Für einmal passiert der Horror in Skandinavien nicht in den Tiefen der Wälder und aufgrund fremdartiger Rituale wie in THE RITUAL (2017) oder MIDSOMMAR (2019). In Eskil Vogts THE INNOCENTS entwickelt sich das Grauen in einer behüteten norwegischen Hochhausüberbauung am Waldrand. Eine Familie mit zwei Kindern zieht in die Wohnsiedlung, von denen die ältere Anna (Alva Brynsmo Ramstad) an Autismus leidet. Meist kritzelt sie auf einer Maltafel herum oder versucht Kreisel zum Drehen zu bringen. Demzufolge muss die jüngere der beiden, Ida (Rakel Lenora Fløttum) oft die Verantwortung für ihre Schwester übernehmen, was es ihr erschwert, neue Freunde zu machen.

Einfach ist das nicht, doch sie findet in Ben (Sam Ashraf) einen Spielgefährten, mit dem sie die neue Welt erkunden kann – allerdings auf seine Weise. Er bringt sie dazu, Anna allein zu lassen – wie das Kinder so machen, denkt man sich. Spielen geht über Aufpassen. Verantwortungslosigkeit. Doch Ben treibt das Spiel weiter, indem er seine kindliche Brutalität im Keller eines Gebäudes einer süßen Katze angedeihen lässt. Not nice to watch. Ida ist verstört. Wir auch. Ben kann aber noch ganz anderes. Kraft seiner Gedanken kann er den Fall eines Bierdeckels ändern … und seine telekinetischen Fähigkeiten werden immer größer. Gleichzeitig ist da Idas neue Freundin Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), die es mit telepathischen Fähigkeiten schafft, der autistischen Anna eine Stimme und eine Meinung zu geben. „I think the same. We think together”, erklärt sie ihrer Mutter.

Auf einmal sind da vier Kinder, die mit Gedanken kommunizieren und Objekte bewegen können und damit untereinander die Welt von Gut und Böse ausmarchen müssen. Die unauffällige, aber in einzelnen Szenen immer wieder verblüffende Kameraführung von Sturia Brandth Grovlen verstärkt das Gefühl des Unbestimmten und Unheilvollen auf simple, aber effektive Art. Sieht man beispielsweise Ida auf der Schaukel, nur sie und hinter ihr der Himmel, kommt plötzlich das Hochhaus von unerwarteter Seite ins Bild. Die Kamera übernimmt die unschuldige Kinderperspektive auf unheimliche Weise. Ergänzend wird etwa die Mystik der Telepathie von einem fantastisch-subtilen Sounddesign großartig in Szene gesetzt.

Da Idas Eltern und die anderen Erwachsenen all das nicht zur Kenntnis nehmen und in einer anderen Realität leben, muss Ida sich selbst mit dem Unheil auseinandersetzen. Der Horror spielt sich in der Kinderwelt ab, die Ereignisse werden dramatischer, mit dramatischen Opfern.

Die Geheimnisse der Welt der Kinder bleiben letztlich unergründlich. Vogt verrät sie uns nicht (falls er sie überhaupt selber kennt). Nicht zufällig kupfert der Film seinen Titel vom Horrorklassiker THE INNOCENTS ab (1961, Regie: Jack Clayton), der zwar plotmäßig keine Gemeinsamkeit mit Vogts Film aufweist, aber die Unwissenheit der Erwachsenen (in jenem Fall war‘s die wunderbare Deborah Kerr als Gouvernante) darüber, was in Kindern vorgeht, thematisiert.

Unvermeidbar eröffnen sich auch weitere Bedeutungsebenen. Ben ist eine Person of Color, wohl arabischer Herkunft, Idas Freundin Aisha ist Afrikanerin. Das lässt den Schluss zu, dass sich Vogts Film bzw. die Wohnsiedlung durchaus auch die multiethnische Gesellschaft zum Thema nimmt. Genau so gut kann man den Film als Geschlechterfilm lesen, denn ausgerechnet der Junge ist der Nicht-Kommunizierende und Gefährlichste. Oder – wohl am ehesten – als einen Film der Vernachlässigung. Während die drei Mädchen doch in ihre Familie bzw. Mutter eingebunden sind, hat Ben nicht viel von seiner alleinerziehenden Mutter. All diese Problematiken lassen natürlich eine überaus konservative Leseart zur „Wohnsiedlung Norwegens“ zu, müssen aber nicht. Solch durchaus realen Probleme sollen sich nicht wegdiskutieren lassen, gerade in einer derart freien und offenen Gesellschaft wie Norwegen. Aber THE INNOCENTS ist wohl kaum eine Anklage von rechts. Dafür ist er zu subtil und in seinem Horrorgewand doch eher das, was Horrorfilme ausmacht: Ängste emotional thematisieren. Nicht zuletzt verneint der Film eine rückschrittliche Lesart mit seinem Ende – übrigens einem spannenden Showdown der sanft mystischen Art.

THE INNOCENTS ist Vogts zweiter Film nach BLIND (2014). Bisher hat er vor allem als Drehbuchschreiber des ebenso talentierten Regiessuers Joachim Trier fungiert. Für ihn erarbeitete Vogt OSLO, 31. AUGUST (2011), LOUDER THAN BOMBS (2015) und THELMA (2017) – nur an eine «Kindergeschichte» war Trier nicht interessiert, weshalb Vogt die Regie selber übernahm.

___________________________________________________________________

De uskyldige / The Innocents, Norwegen/Schweden/ Dänemark/ UK 2021 | Regie, Drehbuch: Eskil Vogt | Kamera: Sturla Brandth Grovlen | Darsteller: Rakel Lenora Flottum, Alva Brynsmo Ramstad, Mina Yasmin Bremseth Asheim, Sam Ashraf, Ellen Dorrit Pedersen, Morten Svartveit, Kadra Yusuf, Lise Tonne | Laufzeit: 135 min.