Cannibal

Cannibal

Von Gerd Naumann

Mit CANNIBAL machte 2005 der bis dahin nur wenigen Zuschauern bekannte Regisseur Marian Dora von sich reden. Was damals das Publikum auf dem Erlanger Weekend of Fear unvorbereitet traf, ist auch noch weit über ein Jahrzehnt später ein Schlag in die Magengrube. Während damals viele Zuschauer aufgrund expliziter Darstellungen protestierend den Saal verließen, sahen andere in dem Film die authentische Zeichnung einer homoerotisch-kannibalischen Männerbeziehung. Dora und seine kongenialen Hauptdarsteller Carsten Frank und Victor Brandl hatten es gewagt, den damals durch die Medien geisternden Fall des Kannibalen von Rotenburg künstlerisch umzusetzen. Das Trio kannte dabei, im Gegensatz zur ein Jahr später entstandenen, aber erst 2009 uraufgeführten Verfilmung von Martin Weisz, keine moralischen und inszenatorischen Hemmungen.
image-2018-03-12Der Film beginnt harmlos: Wir sehen einen offenkundig Kontakt suchenden jungen Mann. Dieser spaziert gedankenverloren durch ein verträumtes, altehrwürdiges Städtchen. Carsten Frank gibt dieser verlorenen, erotomanischen Seele ein Gesicht, er verkörpert den scheinbar harmlosen Kleinbürger, dessen Obsessionen bislang unerfüllt blieben und deren Nichterfüllung ihn innerlich auffrisst. „Der Mann“ ist auf der Suche nach einem Opfer, das sich ihm willenlos ausliefert. Dieses Opfer, das von Victor Brandl dargestellte „Fleisch“, lernt er in einem Internetchat kennen. Beide verabreden sich, nach einigem Zögern kommt es zum ersten Treffen.
Marian Dora verdeutlicht durch die liebevolle Inszenierung der ersten Liebkosungen zwischen den Männern, dass diese echte, aufrichtige Sympathien füreinander hegen. Als dritter Hauptdarsteller fungiert neben den beiden das düstere, beinahe schon dem Verfall preisgegebene Haus des „Mannes“. Hier lebt jemand, der das Leben im Grunde bereits aufgegeben hat. In der ersten Hälfte des Films sticht besonders eine Szene heraus, die aus zwei Gründen bemerkenswert ist. Dora zollt der Kunst des österreichischen Erotikfilmers Hubert Frank Tribut, in dem er „Mann“ und „Fleisch“ in zärtlicher Umarmung eine Zigarette rauchen lässt. Eng umschlungen lesen sie in einem Märchenbuch die Geschichte von Hänsel und Gretel, ohnehin eine kannibalische Phantasie. Dazu erklingt auf der Tonspur ein träumerisches Pianothema von Franks Stammkomponisten Gerhard Heinz. Was in den kokett-frivolen Unterhaltungsfilmen der 1970er Jahre für erotisch-aufbauende Grundstimmungen sorgte, wirkt im Kontext der anstehenden Entmannung des „Opfers“ allerdings wie eine groteske Umdeutung. Aus Hubert wird Dora – mit allen Konsequenzen. Ließe sich CANNIBAL bis zu diesem Moment noch als verquere Initiationsgeschichte interpretieren, so nimmt der Film nun eine radikale Wendung. Was bislang nur angedeutet wurde, wird schlagartig explizit…
image-2018-03-12-4Verstörend, beängstigend, faszinierend und irrlichternd – all diese Attribute treffen auf Doras Film zu. Mit ihm hat sich der Regisseur zwischen alle Stühle gesetzt, da das Werk weder als klassisches Erzählkino funktioniert noch willens ist, eine künstlerische Überhöhung als Stilmittel einzusetzen, wie es beispielsweise Claude Faraldo in THEMROC (1973) gelang. Kannibalismus im Film ist immer eine Gratwanderung zwischen absurder Übertreibung und künstlerischem Selbstmord, wie ihn Ruggero Deodato mit CANNIBAL HOLOCAUST (1980) beging. CANNIBAL nimmt als, um diese Bezeichnung zu verwenden, „schmutziger“ Underground-Film keinerlei Rücksicht auf etablierte inszenatorische Codices. Gedreht auf digitalem Material, das der Qualität des zur Entstehungszeit üblichen Standards entspricht, hat der Film im Laufe der Zeit an Faszination gewonnen. Hierdurch wird der halbdokumentarische Charakter nur noch verstärkt. Zu spüren ist der stilistische Wille des Regisseurs, der den Mut zu hässlichen und verstörenden Bildern aufbringt. Die Darsteller geben sich keine Blöße und beuten sich körperlich wie seelisch aus. CANNIBAL ist in vielerlei Hinsicht ein Film des ersten Jahrzehnts des zweiten Jahrtausends, das nun bereits lange Zeit hinter uns liegt. Die naive Technoeuphorie der 1990er Jahre war verflogen, das Seuchenthema des beginnenden neuen Jahrtausends, der Terrorismus, war bereits eines der dominierenden Themen in der öffentlichen Berichterstattung. Vieles hat sich seit 2005 geändert, Doras kannibalisches Auge aber ist geblieben. Das haben seine weiteren Filme bewiesen. Jedoch ist CANNIBAL nach wie vor das Meisterstück jenes sensiblen Regisseurs, der uns auch mit umstrittenen Todeselegien wie MELANCHOLIE DER ENGEL konsequent in den Abgrund geführt hat.
image-2018-03-12-3Doras Werke waren unbequem und sie werden es bleiben. Seine Arbeiten sind Gratwanderungen zwischen wohl kalkulierten Grenzüberschreitungen und Exzessen, die das Publikum verstört im Dunkel des Vorführraums zurücklassen. Zu spüren ist jederzeit der Einfluss von Filmemachern wie etwa den zeitlebens ruhelosen Geistern Ulli Lommel und Jess Franco, erschaudern lassen bisweilen Assoziationen zu den dunklen Seiten des Wiener Aktionismus. Es weht ein Hauch Otto Mühl durch die Filme, der gerade in CANNIBAL und MELANCHOLIE DER ENGEL eine bedeutende Inspirationsquelle gewesen sein dürfte. Die CANNIBAL-Edition von Black Lava Entertainment darf als Einstieg in Doras Gedanken- und Gefühlskosmos gelten, so finden sich hier ebenfalls zahlreiche frühe Kurzfilme des Regisseurs auf einer separaten DVD. Ein Audiokommentar der Künstlerin Manoush sowie ein umfangreiches vierzigseitiges Booklet runden diese Veröffentlichung ab.

___________________________________________________________

Cannibal – Aus dem Tagebuch des Kannibalen | Deutschland 2005 | Regie: Marian Dora | Darsteller: Carsten Frank, Victor Brandl, Tobias Sickert, Joachim Sigl, Carina Palmer, Bernd Widmann u.a

Anbieter: Black Lava Entertainment