The Untamed

The Untamed

Von Heiko Hanel

Es ist ein langer Weg durch Wiesen und Wälder, bis man das einsame Haus erreicht. Ein älteres Pärchen sieht dort möglicherweise schon seit Generationen nach dem Rechten. Worauf es genau aufpasst, erahnt man am Anfang nur aus den Augenwinkeln. Irgend etwas Schlangenartiges entfernt sich blitzschnell aus dem Blickfeld in diesem dunklen Raum, in dem sich eine erschöpfte, unbekleidete junge Frau befindet. Nicht nur die Geschichte dieser Einzelgängerin sondern auch die einer anderen jungen Frau stellte Amat Escalante, ein Stammgast des Rotterdamer Filmfestivals, mit seinem neuen Film LA REGIÓN SALVAJE vor.

The-Untamed-posterAlejandra hat zwei Kinder und sehr unpersönlichen Sex mit ihrem Mann Angel. Wir erfahren bald, dass dessen Begehren seinem Schwager und Krankenpfleger Fabian gilt. Doch deren beider Annäherungsversuche enden in Demütigungen durch Arbeitskollegen. Fabian wiederum freundet sich mit Veronica an, deren seltsame Verletzungen am Bauch er nicht deuten kann. Als Fabian häusliche Gewalt vermutet, antwortet sie auf die Frage, ob sie mit einem Mann oder einer Frau zusammen ist: „Ich weiß es nicht.“ Der Zuschauer weiß das auch nicht, aber Veronica ist die nackte Frau aus der Anfangsszene. Sie hat vielleicht eine Lösung für Fabian anzubieten. Oder für Alejandra, oder für Angel. Und diese Lösung hat Tentakel und kann große Lust spenden. Aber auch großen Schmerz und Tod. Und wenn man dieses Wesen nichts spenden lässt, wird es zu einer Bedrohung für mehr als nur die Protagonisten dieses neuen Meisterwerks von Amat Escalante.

the-untamed-movieUm POSSESSION von Andrzej Zulawski kommt man hier nicht herum, aber die aggressive Atemlosigkeit von dessen Tentakelklassiker ist hier einer nicht minder atemlosen Permissivität gewichen, der sich fast alle Beteiligten dieser seltsamen Familientragödie hingeben. Und Familienalltag wird hier nicht ausgespart. Das Fantastische mischt sich mit dem Profanen. Als Fabian verschwindet und Angel deshalb verhaftet wird, nutzt dessen wohlhabende Mutter ihre Beziehungen zu den Behörden aus. Ihr war die Ehe mit der nicht standesgemäßen Alejandra ein Dorn im Auge. Diese muss nun sehen, was sie mit den Kindern macht, weil arbeiten tut sie halt auch noch. Fabian und Angels Beziehung hätte in einem anderen Umfeld vielleicht funktioniert. Hier beweist Escalante seine Virtuosität in der Schilderung eines von sozialem Druck und Chauvinismus durchseuchten Alltags, wie er es auch schon in SANGRE, LOS BASTARDOS und HELI so toll hinbekommen hat. Alle genannten Filme liefen ebenfalls in Rotterdam und fügen sich wunderbar in das Programm dieses großen Europäischen Festivals ein. Die Gewaltexzesse der Vorgängerfilme (wir erinnern uns an brennende Penisse) werden durch eine lebensbedrohliche Utopie ersetzt: das Tentakelmonster. Es spendet große Lust, aber eben auch den Tod, wenn es gerade misslaunig ist. Oder die Chemie nicht stimmt. Oder man zu lange in dem Haus verweilt. Erstaunlich sind die perfekten Special Effects, allen voran eine Waldtierorgie in einer Grube, die sicher zu den beunruhigendsten Szenen des Jahres gehört. Das kriegt man nicht so schnell aus dem Kopf.

Die entrückte Bildgestaltung stammt von Manuel Alberto Claro, der unter anderem Lars von Triers MELANCHOLIA fotografiert hat. Und entrückt ist dieser ganze Film, der sein Geheimnis nicht wirklich preisgibt.

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La región salvaje, Mexiko 2016 | Regie: Amat Escalante | Drehbuch: Amat Escalante und Gibrán Portela | Kamera: Manuel Alberto Claro | Mit: Ruth Ramos, Simone Bucio, Jesús Meza, Eden Villavicencio, u.a., | Laufzeit 98 Minuten