Harmonium

Harmonium

Jörg Stodolka

Viele Filme sind obligatorisch in der gesellschaftlichen Realität ihres Herstellungslandes verortet. Doch nicht oft wird das gemächliche Tempo des alltäglichen Lebens zum Zeitmaß des Films. Koji Fukadas HARMONIUM nimmt in ruhigen Einstellungen Teil am Schicksal einer japanischen Familie. Schon die ersten Bilder zeigen Momente normalen Alltags. Szenen beim Frühstück. Mutter Akie bereitet das Essen. Tochter Hokaru macht ihre ersten Versuche, das titelgebende Harmonium zu spielen. Vater Toshio bei der Arbeit in der angrenzenden Werkstatt. Alltäglichkeit in einer durchschnittlichen Wohngegend Japans, entfernt vom Trubel der Metropolen. Automatismen, die nur unzulänglich darüber hinwegtäuschen, dass Akie unter dem Patriarchat ihres Mannes nur wenig Raum zur Selbstentfaltung findet. Sehnsüchte bleiben unausgesprochen. Die Situation ändert sich erst, als Toshio mit Yasaka einen Ex-Häftling und alten Freund als Helfer in der Werkstatt einstellt – ein Element der Irritation inmitten ritualisierter Erstarrung. Independentveteran Tadanobu Asano (VITAL, ICHI u.v.m.) verleiht diesem schüchternen, zurückhaltenden Mann eine trügerische Harmlosigkeit, die umso verdächtiger wird, je mehr der Zuschauer über die gemeinsame kriminelle Vergangenheit von Toshio und Yasaka erfährt. Eine alte Rechnung muss beglichen werden, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zur Eskalation kommt.

In der ersten Hälfte ist Fukadas meisterlicher HARMONIUM ein subtiler ‚Home Invasion Thriller’ in Zeitlupe. Yasaka gewinnt das Vertrauen von Toshios Frau, die sich zunehmend zu ihm hingezogen fühlt. Und auch für Tochter Hokaru, der er beim Harmoniumspielen hilft, wird der Fremde immer mehr zum vollwertigen Familienmitglied. Als sich schließlich die lange unterdrückten Emotionen Bahn brechen, kommt es zur Katastrophe, deren Folgen die Charaktere in der bitteren und desillusionierenden zweiten Filmhälfte noch lange beschäftigen wird. Es ist der Kampf, eine verlorene Normalität zurückzugewinnen, die es doch so nie gegeben hat. Dass erst im Streben der Protagonisten nach dem Unwiederbringlichen diese Erkenntnis reift, macht die bittere Tragik von Fukadas Film aus. Katharsis ist keiner der Figuren vergönnt. Gelebtes Glück bleibt in HARMONIUM bloße Behauptung – die Illusion der Protagonisten nach einem erfüllten Leben, an die sie sich umso verzweifelter klammern, je mehr sie ihnen entgleitet.

Harmonium-2Nicht ohne Grund gewann Fukadas Film im vergangenen Jahr den Hauptpreis in der “Un Certain Regard” Sektion von Cannes. Ein ruhiges, in seiner bitteren Konsequenz verstörendes Meisterwerk, das die Ungewissheit zelebriert – sowohl für die Protagonisten wie auch für den Zuschauer, der zwar einige Plotelemente vorherzusehen vermag, dennoch bis zum Schluss über Details im Unklaren gelassen wird.

Anfang des Jahres war HARMONIUM noch mal auf einer großen Leinwand zu sehen. Auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam war er neben Shunji Iwais A BRIDE FOR RIP VAN WINKLE einer der wichtigsten Beiträge in der Auswahl japanischer Filme. Als Vorfilm lief mit BIRDS (BETA) ein aktueller Kurzfilm Fukadas, der komplett mit einem iPhone gefilmt wurde. Das Überraschendste an der surrealen Beziehungskomödie war die Qualität der Bilder, die selbst im größten Kinosaal noch gestochen scharf daherkamen. Was für ein Unterschied zu den verwaschenen Videoproduktionen der 1990er, die bei mir zwanzig Jahre zuvor in einer früheren Edition des Festivals noch für Kopfschmerzen gesorgt hatten. Auch die lange Tradition der Präsentation internationaler Genrefilme wurde 2017 fortgeführt – mit Julia Ducournaus RAW, Miikes MOLE SONG, Wheatleys FREE FIRE, PREVENGE, SUPER DARK TIMES, aber auch wenig bekannten, dafür umso heftigeren Genrebeiträgen wie dem vietnamesischen KFC. Splatting Image- und Rotterdam- Veteran Olaf Möller zeichnete für eine Filmreihe mit herausragenden älteren und aktuellen französischen Kriminalfilmen (u.a. Schoendoerffers rasantem LE CONVOI) verantwortlich und führte damit einmal mehr seine erfolgreiche Rolle als Kurator außergewöhnlicher Programme fort.

Harmonium-3Einen Unterschied zu früheren Festivaleditionen gab es jedoch: Einige der interessantesten Beiträge (u.a. RAW und HARMONIUM!) wurden nur niederländisch untertitelt gezeigt und waren selbst in den Pressevorführungen nicht mit englischen Untertiteln versehen – zumindest Letzteres hatte es in dieser Form bislang noch nicht gegeben. Der Ärger der internationalen Presse war verständlich und führte bei Kollegen gar zu Aussagen, im nächsten Jahr auf den Festivalbesuch zu verzichten, da man offensichtlich nicht mehr erwünscht sei. Es bleibt die Hoffnung, dass es sich um einen einmaligen organisatorischen Fauxpas handelte – eine Hoffnung, die sich im Gegensatz zu den Wünschen der Charaktere in HARMONIUM noch zu erfüllen vermag.

Die nächste Ausgabe des IFFR findet vom 24. Januar bis 4. Februar 2018 statt.

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Harmonium (Fuchi ni tatsu), Japan 2016 | Regie, Drehbuch, Schnitt: Koji Fukada | Kamera: Kenichi Negishi | Musik: Hiroyuki Onogawa | Mit: Mariko Tsutsui, Tadanobu Asano, Kanji Furutachi, Momone Shinokawa, Kana Mahiro, Taiga, u.v.a. | Laufzeit:120 Min.