Ein Gespräch mit Lucile Hadzihalilovic
Von Jörg Stodolka und Heiko Hanel
Nach elf Jahren war die sympathische Regisseurin mit ihrem zweiten Spielfilm ÉVOLUTION wieder zu Gast auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam und zeigte sich mit dem neuen Werk auf der Höhe ihres Schaffens. Vergleicht man den Erstling INNOCENCE mit dem Nachfolger, so kann man kaum glauben, dass dazwischen derartig viel Zeit vergangen ist. Die Lebensgefährtin Gaspar Noés versteht es nach wie vor meisterhaft, mystische, der Realität entrückte Welten zu kreieren – und den Zuschauer zutiefst zu beunruhigen.
Das folgende Interview enthält Spoiler.
Nach der Vorführung Ihres Films hier in Rotterdam gab es einige Stimmen, die ÉVOLUTION als die gegengeschlechtliche Interpretation von INNOCENCE bezeichneten, also eine Art „INNOCENCE mit Jungs“.
Es ging mir nicht darum, nach den Mädchen nun von den Jungen zu erzählen. Ich wollte schon etwas anderes machen als nur eine Variation von INNOCENCE. Diesmal wollte ich weniger abstrakt, mehr narrativ sein. ÉVOLUTION hat auch mehr von einem Genrefilm, ist auch intimer als INNOCENCE. So geht es am Anfang nur um diesen Jungen und seine Gefühle, seine Ängste und sein Verhältnis zu seiner Mutter. Erst dann kommen die anderen Leute um ihn herum. Da gibt es natürlich Ähnlichkeiten zur Struktur von INNOCENCE – es gibt nur Frauen, der abgelegene, isolierte Ort, die Verbindung zur Natur etc., etc.. Ich wollte mich ursprünglich schon von der Struktur von INNOCENCE lösen, habe aber dann selbst bemerkt, dass da eine Verbindung besteht. Keine Ahnung, ob das nun gut oder schlecht ist.
Diese Verbindung war also nicht direkt beabsichtigt?
Genau, das war eigentlich nicht beabsichtigt. Ich wollte eigentlich eine andere Richtung einschlagen, aber während ich an dem Thema gearbeitet habe, wurden mir die Ähnlichkeiten selbst bewusst. Wahrscheinlich bin ich einfach so strukturiert.
Selbst in ihrem ersten Kurzfilm LA BOUCHE DE JEAN-PIERRE ist ein junges Mädchen die Hauptfigur, das dann von der erwachsenen Welt bedroht wird.
Ich weiß auch nicht. Ich finde es einfach interessant, von Kindern im Alter von etwa 10 Jahren zu erzählen. Das ist eine sehr interessante Zeit. Als ich in dem Alter war, habe ich viel darüber nachgedacht, was wohl einmal aus mir werden würde. Ich bin aber später nicht zum Psychoanalytiker gegangen, hatte auch niemals das Gefühl, mich heilen lassen zu müssen.
Stattdessen machen Sie Filme.
Genau (lacht). Eigentlich sind alle diese Filme „Coming of Age“ Stories – ÉVOLUTION ist nur eine sehr dunkle Variante über einen aufgewühlten Jungen auf dem Weg zum Teenager mit der Angst vorm Erwachsenwerden.
Wenn Sie sagen, dass sie in ÉVOLUTION narrativer sein wollten als in INNOCENCE, so hat man am Ende des Films trotzdem nicht unbedingt das Gefühl, dass man viele Informationen über die Hintergründe bekommen hätte. Erklärt wird doch eigentlich nichts – und auch darin unterscheidet sich ÉVOLUTION wenig von INNOCENCE.
Das stimmt. In ÉVOLUTION gibt es dennoch eher eine traditionelle Handlung, auch wenn der Plot aus verschiedenen Gründen Löcher aufweist. An Erklärungen bin ich nicht unbedingt interessiert. „Wer sind diese Frauen? Woher kommen sie?“ – Das ist gar nicht der Punkt. Es geht eigentlich um den Jungen und seine innere Reise. Und das Ende sehe ich weniger als Happy End als vielmehr den Beginn eines neuen Zyklus.
Wobei wir ja nicht sehen, was ihn dort erwartet. Freundlich sieht es dort auf jeden Fall nicht aus.
Ja, wir wissen es nicht. Der Junge ist von der Insel der Mütter geflohen – wenn ich das mal so sagen darf – und kommt in eine neue Welt. – Nochmal zurück zu den fehlenden Erklärungen: Beim Filmen war ich mir sehr bewusst, dass es sich um einen Genrefilm handelt mit seltsamen medizinischen Experimenten und Monstern. Man kommt sehr schnell darauf, dass es sich bei den Frauen um hybride Kreaturen handelt, etwas, das im Genre – sei es Literatur, Film oder Mythologie – tief verwurzelt ist. Daher denke ich auch nicht, dass ich mehr dazu erklären musste. Die Idee von Wesen, die aus dem Meer kommen, ist längst bekannt. Es wäre nur langweilig gewesen, mehr zu erläutern. Für die Mädchen in INNOCENCE ist das Mysterium die Welt der Erwachsenen, die sie nicht verstehen, aber sehr stark spüren. Ich möchte, dass die Zuschauer ähnliche Gefühle beim Schauen des Films empfinden. ÉVOLUTION wiederum ist ganz aus der Sicht des Jungen erzählt, obwohl es einige Szenen darin ohne ihn gibt. Ich wollte das Geheimnis vor dem Jungen wie vor den Zuschauern bewahren. Für mich gibt es für die Geschichte viele Erklärungen, aber ich denke nicht, dass diese für den Zuschauer wichtig sind. Im ursprünglichen Drehbuch gab es noch viel mehr Details, aber wir hatten nicht das Geld dazu, alles davon zu realisieren. Ich bedauere das allerdings nicht, denn der Kern der Geschichte ist erhalten geblieben.
Es gibt viele Filme über schwierige Mütter. Hier ist es aber eher die Krankenschwester, zu der der Junge eine nennenswerte Beziehung aufbaut. Sie scheint sich viel mehr um den Jungen und seine Individualität zu kümmern als seine Mutter, die von ihm Konformität verlangt.
Ganz genau. Durch diese junge Frau wird ihm die Möglichkeit gegeben, erwachsen zu werden und zu fliehen.
Wo kommt den eigentlich der Filmtitel her? Von einer natürlichen Änderung der Biologie kann doch hier keine Rede sein. Vielmehr sind es hier die Ärzte, die aktive Eingriffe in einen natürlichen Prozess vornehmen.
Dazu gibt es zwei Interpretationen. Die eine ist die offensichtlichere: Es ist die „Coming of Age“-Geschichte des Jungen, der einen Reifeprozess durchläuft. Die andere bezieht sich auf die medizinischen Experimente mit dem Ziel, ein neuartiges Wesen zu erschaffen – die biologischen Aspekte dieser Manipulation der Menschheitsentwicklung werden jedoch nicht fertig ausgearbeitet. Das war im ursprünglichen Script ausführlicher. Mir gefiel die Idee, dass die Menschheit in Beziehung steht zu anderen Spezies und sich eher zu ihren Ursprüngen zurückentwickelt, also eine Art Re-Evolution zurück zu den Urinstinkten durchläuft.
Auch die Mütter scheinen sich ja in etwas anderes transformieren zu wollen.
Wenn es denn die Mütter sind. In einer Szene des Films sagt der Junge ja auch, dass die Frau nicht seine Mutter ist. Sie ist eine fremde Person für ihn. Und diese Frauen benutzen die Jungen für ihre eigenen Zwecke, um ihren Fortbestand zu sichern.
Wie haben Sie denn die Hauptdarsteller gefunden? Roxane Duran als Krankenschwester kennen wir aus Hanekes DAS WEISSE BAND. Es war schon eine Überraschung, sie in diesem Film zu sehen.
Sie ist Österreicherin, lebt aber in Frankreich. Zunächst habe ich gar nicht an sie gedacht. Ich kannte sie aus dem Haneke-Film, dachte aber, sie sei ein bisschen jung für die Rolle. Als sie dann beim Casting erschien, fand ich sie mit ihrem ganz speziellen Aussehen sehr interessant für den Film. Sie hat sehr viel Charme und wirkt ein wenig kindlich, so dass man sich vorstellen kann, dass sie gut mit einem Kind auskommt. Sie bringt da eine Wärme und Freundlichkeit in eine Welt, die eher rau, distanziert und unemotional wirkt. Was die Rolle des Jungen betrifft, so suchte ich nach einem Kind, das noch nicht in einem Kinofilm zu sehen war. Ich dachte, es wäre besser, einen unerfahrenen Darsteller zu nehmen. Darüber hinaus sollte er gut schwimmen können. Was mir an Max Brebant gefiel, war seine charismatische Ausstrahlung und die sehr zerbrechliche Physis. Er war zum Zeitpunkt des Drehs 13 Jahre alt und damit älter als er aussieht. Sein Kopf wirkt größer, als würde er nicht zu dem eher zerbrechlichen Körper passen. Das fand ich sehr interessant. Es war nicht schwierig mit ihm zu arbeiten. Er war alt genug. Ich wollte eigentlich, dass er ein wenig ängstlicher wirkt, aber diese Emotion war nur schwer von ihm zu bekommen. Wir hatten auch nicht so viel Zeit für die Dreharbeiten, so kam uns dann die Idee, er solle eher ein Poker-Face aufsetzen. Das hat dann gut funktioniert. Ihm war die Geschichte eigentlich egal. Es hat ihm einfach nur Spaß gemacht. Er konnte schwimmen und in einer bizarren Geschichte mit Monstern dabei sein.
Wie klappt denn das Drehen mit Kindern? Die müssen doch eigentlich zur Schule.
Wir haben den Film im Sommer während der Ferien gedreht. Da die Dreharbeiten nicht lange gedauert haben – Juni bis Ende Juli – funktionierte das gut. Man kann auch außerhalb der Ferien drehen, aber dann muss auch immer ein Lehrer am Set sein, und das verzögert natürlich die Dreharbeiten.
Als INNOCENCE veröffentlich wurde, gab es eine große Kontroverse, da sie den ganzen Film über minderjährige Mädchen gezeigt haben – offensichtlich bekamen einige da sexuelle Assoziationen. Erwarten sie solche Proteste auch bei Ihrem neuen Film?
Die Körper der Jungen scheinen weniger ein Tabu darzustellen als junge Mädchenkörper.
Das ist doch seltsam.
Ja, ich weiß auch nicht, warum, aber das Gefühl hatte ich. Ich denke, das Verstörende für die Zuschauer an INNOCENCE war diese verborgene, subtile Bedrohung. Manchmal denke ich, es wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn ich einen Vergewaltiger eingebaut hätte. In ÉVOLUTION gibt es nun ein richtiges Monster. Und selbst, wenn es hier gegen Ende ein wenig Sinnlichkeit gibt bei den Szenen mit der Krankenschwester – obwohl, eigentlich gab es ja sowas in INNOCENCE gar nicht – ist das schon etwas anderes. Es ist immer noch einfacher, den halbnackten Körper eines Jungen zu zeigen als den eines Mädchens. Aus welchen Gründen auch immer. Ja, das ist in der Tat seltsam.
Wie waren denn die Reaktionen auf Ihren ersten Kurzfilm LA BOUCHE DE JEAN-PIERRE? Ich kann mich da an die unangenehme Szene erinnern, in der der erwachsene Onkel das minderjährige Mädchen begrapscht.
Vielleicht war es ja wirklich wegen LA BOUCHE, wo ein erwachsener Mann ein Kind anfasst. Ich glaube, dass viele die sexuell aufgeladenen Geschehnisse in LA BOUCHE in INNOCENCE hinein projiziert haben, obwohl es eigentlich gar nicht darum ging.
LA BOUCHE DE JEAN-PIERRE erinnert vom Stil sehr stark an Gaspar [Noé]s CARNE. Wie kam das?
Ich habe den Film gemacht, während ich mit Gaspar an I STAND ALONE gearbeitet habe, also nach CARNE. Wir haben I STAND ALONE selbst produziert, sodass wir in dieser Zeit auch eng zusammengearbeitet haben. Die Arbeit zog sich über einen recht langen Zeitraum hin, da wir immer nur in kleinen Schritten, Stück für Stück arbeiten konnten. Und genau in dieser Zeit ist LA BOUCHE entstanden. Erst später wurde mir klar, wie beeinflusst ich in dieser Zeit von Gaspars Stil war. Es ist schon seltsam: Während ich an dem Projekt gearbeitet habe, sind mir in erster Linie die Unterschiede zwischen Gaspars und meiner Arbeit aufgefallen. Da gibt es schon deutliche Unterschiede, aber auch frappierende Gemeinsamkeiten, wenn ich nur an die Titeleinblendungen denke.
Gaspar hat damals die Kamera gemacht?
Ja genau. Wir haben uns in jener Zeit offenbar deutlich gegenseitig beeinflusst.
Aber das ist bei INNOCENCE nicht mehr passiert.
Als Gaspar IRREVERSIBLE gemacht hat und ich INNOCENCE, haben wir die Filme nicht mehr selbst produziert. Es waren also mehr klassische Produktionsumstände. Jeder hatte seine eigene Crew, sodass wir nicht mehr so voneinander abhängig waren. Da habe ich mich dann wohl emanzipiert (lacht).
Dieses Mal haben Sie mit dem Kameramann Manuel Dacosse zusammengearbeitet.
Haben Sie seine Arbeiten AMER, THE STRANGE COLOR OF YOUR BODY‘S TEARS gesehen – oder Fabrice Du Welz‘ ALLELUIA? Der war von der Bildgestaltung völlig anders als die anderen beiden. Als ich AMER das erste Mal gesehen habe, fand ich den schon ziemlich außergewöhnlich. COLOR fand ich visuell sogar noch beeindruckender – Bildgestaltung und Kadrierung waren faszinierend. Ich wollte ihn unbedingt für meinen Film. Zugute kam mir dabei, dass ÉVOLUTION eine belgische Koproduktion ist, obwohl ich ihn auch sonst für mein Projekt hätte gewinnen wollen, da wir auch schon mal einen gemeinsamen Kurzfilm gemacht haben (NECTAR, Anm. des Übersetzers). Er ist sehr talentiert und hat keine Angst vor ungewöhnlichen Projekten, in denen man auch mal ohne Licht auskommen muss. Wir nutzten nämlich nur die Lichtquellen, die man auch im Bild sieht. Im Krankenhaus war das dann einfach die Beleuchtung im Behandlungsraum. Wir hatten nicht sehr viel Zeit für den Dreh, mussten sehr effektiv, schnell, aber auch sehr einfach arbeiten. Da gab es also keine Steadycam oder sonstige komplexe Hilfsmittel. Das war alles sehr minimalistisch.
So sieht das fertige Ergebnis aber gar nicht aus. Da wirkt nichts gehetzt oder improvisiert.
Wir haben ohne Storyboards gearbeitet. Ich habe mich mit Manuel auf eine Richtung geeinigt – Scopeformat, eine eher unbewegliche, ruhige Kamera – und dann haben wir losgelegt. Es ist fast schon ein Wunder, dass das so gut funktioniert hat.
Gab es denn viel Postproduction?
Ja, da war schon einiges. Es gab einige CGI-Effekte. Wir haben besonders viel mit dem Ton gespielt, die richtigen Sounds herausgesucht und die richtige Musik ausgewählt. Die Abmischung ging dann wiederum sehr schnell.
Wie sind Sie denn darauf gekommen, Musik von Cyclobe zu verwenden? Gaspar [Noé] hat mir einmal erzählt, dass er ein großer Fan von Industrial und Dark Ambient Musik ist und den ganzen Tag nur Drones hören könnte. Hat das etwas damit zu tun?
Ich stecke da nicht so drin, aber ich kenne natürlich einiges. Das Album von Cyclobe hatten mir mal Freunde vorgespielt – Sie wissen schon: „Das musst Du Dir mal anhören!“ Für den Filmanfang wollte ich eine ganz spezielle Musik, ein ganz spezielles Instrument haben, die Ondes Martenot. Das war eines der ersten elektronischen Instrumente in den 1930er Jahren. Ich fand dann ein Stück des französischen Komponisten Olivier Messiaen, das ich dann zwar nicht verwenden konnte, das aber die Richtung vorgab, in der ich suchen musste. Der Klang des Instruments ist ziemlich speziell, gleichzeitig vermittelt es aber auch eine Intimität und Traurigkeit, mit der ich den Film beginnen wollte. Für das Filmende wollte ich eine Art „Trance“-Moment haben, wenn die Krankenschwester den Jungen mit ins Boot nimmt, so wie in einem Traum, wie in Trance. Ich hatte zunächst ein wenig Angst, das Stück von Cyclobe wäre dann doch ein wenig zu „industrial“ und würde nicht in diese Filmwelt passen. Dennoch denke ich, dass es im Ergebnis sehr kohärent geworden ist und sich gut in die restlichen Stücke des Soundtracks einfügt – auch wenn es vielleicht ein wenig auffälliger und elektronischer ist.
INNOCENCE erinnert in vielen Momenten an Peter Weirs PICNIC AT HANGING ROCK. Gab es denn spezielle Vorbilder für ÉVOLUTION? Mir ist WHO CAN KILL A CHILD? in den Sinn gekommen, auch wenn das eine ganz andere Art von Film ist.
Ja, das stimmt. Das war eine der wenigen Referenzen, die ich hatte – auch, wenn es da weniger um die Geschichte als mehr um den Handlungsort eines einsamen, leeren Dorfes auf einer Insel geht. Das hat mich sicher beeinflusst.
Was sind Ihre weiteren filmischen Einflüsse?
Ich bin im Wesentlichen durch die Filme beeinflusst, die ich als Teenager gesehen habe wie z.B. italienische Horrorfilme. In INNOCENCE kann man den Einfluss Dario Argentos deutlicher sehen als in ÉVOLUTION. Hier war es mehr David Lynchs ERASERHEAD, der mich damals in meiner Jugend schwer beeindruckt hat und heute immer noch einzigartig ist. Dieser Film hat mich sicher am meisten geprägt. Kann sein, dass es an dem Alter lag, in dem ich den Film gesehen habe, aber das war damals wie ein Schock für mich. Weitere Einflüsse sind sicher die Filme von Tarkovsky und später dann Lars von Trier. Seine ersten Filme wie ELEMENT OF CRIME und EUROPA haben mich schwer beeindruckt.
Der Drehort von ÉVOLUTION war Lanzarote.
Genau. Bravo! Wohl schon mal dort gewesen (lacht). Wir waren mit dem Produzenten von den kanarischen Inseln vor Ort zum Location Scouting. Die Insel ist nicht so groß, und auf der stürmischeren Seite haben wir dieses alte Dorf gefunden. Da gibt es nicht viele Touristen, da man dort nicht so gut schwimmen kann – zu viele Felsen, zu viel Wind. Die Inselbewohner haben dort immer noch Häuser und kommen am Wochenende zum Grillen hin. Als ich das erste Mal dort war, dachte ich, das Dorf wäre verlassen. Da sich das Projekt so lange hinzog, hatte ich über die Jahre immer mehr Angst, das Dorf wäre mittlerweile abgerissen oder modernisiert worden. Ich bekam immer wieder Fotos von dem Ort, und auf einem war die ganze Gegend plötzlich voller Autos. Ich konnte kaum glauben, dass der Ort gar nicht verlassen war. Wir mussten die Autos während der Dreharbeiten sogar wegschaffen. Das Krankenhaus haben wir übrigens in Barcelona gefunden, da sich auf Lanzarote nichts Geeignetes finden ließ. Das war wirklich ein verlassenes Krankenhaus. Da haben wir dann die Wände gestrichen und uns eingerichtet. Das war fast ein wenig wie im Studio zu arbeiten. Wir konnten vieles nach unseren Wünschen ändern, nutzten aber auch die schon existenten Elemente. Mich hat die Bausubstanz mit all seinen Flecken sehr fasziniert. Das hätten wir im Studio so nicht hinbekommen. Der Eingang vom Krankenhaus war dann wiederum auf Lanzarote an einem im Bau befindlichen Hotel.
Es gibt einen deutlichen Unterschied in der Farbpalette, die Sie in den Szenen Unterwasser und an Land verwenden.
Lanzarote ist eine Vulkaninsel. Dort gibt es schwarzen Sand und weiße Häuser. Die Frauen tragen auch keine bunten Kleider. Ich wollte da einen Unterschied herausarbeiten zwischen der bunten, paradiesischen Unterwasserwelt und der eher nüchternen, weniger farbigen Welt an Land. Die ist schon wegen der Trockenheit eher trist ohne Bäume und Pflanzen. Im Krankenhaus sollte die Farbe Schwarz dominieren, dann aber mit grünen Wänden – so als würde die Unterwasserwelt nun das Krankenhaus durchdringen.
Können Sie uns etwas zur Bedeutung des Seesterns sagen, den man im Film häufiger sieht?
Der Seestern liefert zunächst einfach mal ein schönes Bild – ein sehr schönes wie seltsames Lebewesen von prägnanter roter Farbe. Wenn man ihn sich genauer anschaut, dann hat seine Oberfläche etwas sehr Organisches, und genau nach solchen organischen Elementen habe ich gesucht. Ich hätte auch einen Oktopus nehmen können, aber ich fand den Seestern noch interessanter – eine sehr alte Lebensform, wie sie weiter von der unseren nicht entfernt sein könnte; ein sehr altes, einfaches Tier, das aber sogar seine Gliedmaßen regenerieren kann. Er ist ein Archetyp im Jungschen Sinne innerhalb unseres kollektiven Bewusstseins. Er hat nicht einfach eine spezielle Bedeutung, sondern steht vielmehr für eine Struktur, die fest in unserem Bewusstsein verankert ist.
Warum hat es eigentlich mehr als zehn Jahre gedauert, bis Sie ihren zweiten Film realisieren konnten?
Mir standen einfach nicht die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung. Zunächst hatte ich nicht gedacht, dass es so schwierig werden würde, Geld dafür zu bekommen, weil ÉVOLUTION im Vergleich zu INNOCENCE doch eher ein Genrefilm ist. Auf der anderen Seite ist er allerdings immer noch ein Autorenfilm. Nun sind schon Genrefilme in Frankreich nicht so gut angesehen. Das Geld fließt dann eher in die potenziell erfolgreicheren Sparten wie Komödien. Aber dann ist der Film auch noch ruhig und langsam und damit noch weniger kommerziell ausgerichtet. Für die Autorenkino- und Arthausszene geht der Film dann wieder zu sehr in Richtung Fantasy und Horror, ist zu populärkulturell. Es war schwierig, ihn in eine Schublade zu stecken: Horror, aber eben auf eine ganz eigene Art. Irgendwann versuchten wir dann eine Finanzierung über eine Menge von Leuten, also nicht mehr eine Einzelfinanzierung wie z.B. durch einen Fernsehsender (obwohl wir da auch ein wenig Geld bekommen haben). Dazu mussten wir immer wieder bei Gremien vorsprechen. Und die haben das Projekt dann nicht verstanden, es nicht ernst genommen und nicht gefördert. Ich hatte zunächst mit meinem Produzenten von INNOCENCE angefangen, mit dem ich damals sehr gute Erfahrungen gemacht hatte. Doch leider konnte er nicht genug Geld auftreiben. Es hat einige Jahre gedauert, bis mir klar wurde, dass es mit ihm nicht weitergehen würde. Dann haben wir zwischenzeitlich noch versucht, ein anderes Projekt zu realisieren. Aber als auch daraus nichts wurde, musste ich einen anderen Produzenten finden. Sylvie Pialat war schließlich unvernünftig genug und wollte den Film produzieren. Am Ende hat sie dann auch nicht mehr Geld zusammenbekommen als ihr Vorgänger, aber sie sagte dann „Das ist das Geld, was wir haben. Mehr wird es nicht werden. Wenn Du aber das Drehbuch kürzen kannst und es mit dem Budget hinbekommst, machen wir das.“ Der andere Produzent hatte das nicht gesagt. Es kann aber auch sein, dass ich über die Jahre, die das Projekt sich hinzog, immer mehr dazu bereit war, auch Teile der Story zu opfern, wahrscheinlich, weil ich Distanz gewonnen hatte.
Dann hoffen wir mal, dass es mit dem nächsten Projekt schneller klappt.
Ich auch. Ich muss sehr aufpassen, dass ich für meinen nächsten Film nicht wieder zehn Jahre brauche, denn irgendwann werde ich zu alt sein (lacht). Aber im Ernst: Über die Jahre hat es für die Art von Filmen, die ich machen möchte, immer weniger Geld gegeben. Daher muss ich mir gut überlegen, was ich mache – und vielleicht auch vernünftiger sein (lacht).
Das ist dann wohl ein bisschen wie bei Gaspar, der auch recht lange Pausen zwischen seinen Filmen hat.
Das ist wohl wahr. Er war allerdings nach den Anstrengungen für ENTER THE VOID auch total erschöpft und brauchte Zeit, um sich zu erholen. Ich war zwar mit ihm in Tokio, aber als die Dreharbeiten begannen, schon nicht mehr im Land. Ich habe auch ein neues Projekt, über das ich aber noch nichts verraten möchte. Ich bin da etwas abergläubisch.
Wie haben Sie denn eigentlich die über zehnjährige Pause überbrückt?
Ich habe an einigen Projekten gearbeitet, für die ich bezahlt wurde. Ich mag es zum Beispiel, mit anderen an Drehbüchern zu arbeiten. Im Schneideraum sieht man mich eher nicht.
Das Sie den Filmschnitt erwähnen: Wie schafft man es als Regisseurin eigentlich, beim Schnitt den Überblick zu behalten und sicherzustellen, dass der Film nicht zu lang wird, weil man alle visuell beeindruckenden Szenen bis zum Ende ausreizt – oder eben auf der anderen Seite nicht alles herausschneidet, was keine neuen Informationen enthält?
Es ist die Aufgabe des Cutters, mit dem ich zusammenarbeite, da die Notbremse zu ziehen. Aber ich persönlich habe manchmal auch das Gefühl, dass zu schnelles Schneiden etwas Unnatürliches hat – mag sein, dass ich eine langsame Person bin (lacht), aber gerade die Schauspieler benötigen eine gewisse Zeit in den Szenen, um natürlich rüberzukommen. Es ist, als ob ich in meinen Filmen auch eine Zeit zum Durchatmen bräuchte. Ich bin kein Freund von schnellen, hektischen Schnitten. Gerade auch im Zusammenspiel mit dem Ton braucht es einige Zeit, um Intensität aufzubauen. Da es bei mir um die Welt von Kindern geht, braucht es mehr Zeit zum Beobachten und Zuhören. Für mich bedeutet „schneller“ auch immer mehr an der Oberfläche zu bleiben – zumindest, was meine Themen betrifft. Daher möchte ich das Tempo herausnehmen. Die Cutterin hat in ÉVOLUTION einige Kämpfe mit mir ausgefochten. Am Anfang war mir das alles zu schnell. Sie hatte wiederum Angst, dass die Szenen zu lang sein könnten. Wir mussten also eine Balance finden zwischen ihrem Bemühen, den Film schneller zu machen, und meiner Vorstellung, die Szenen immer ein wenig länger zu zeigen, so als würde man auf etwas warten.
Das hat bei ÉVOLUTION dann auch hervorragend funktioniert. Vielen Dank für das nette Gespräch.
___________________________________________________________
Übersetzung: Jörg Stodolka
Foto: Heiko Hanel