Spurlos verschwunden

Spurlos verschwunden

Von Stefan Preis

„Die Grenzen, die Leben und Tod scheiden, sind unbestimmt und dunkel.” Edgar Allan Poe

Die erste Einstellung zeigt die Großaufnahme einer Stabheuschrecke, die Kamera wandert von dem Grundstück zu einer befahrenen Straße. Am Ende sehen wir eine Gottesanbeterin im Gras, nachdem das schreckliche Rätsel des Films geklärt ist; eine Auflösung, die sich der Marquis de Sade oder Edgar Allan Poe ausgedacht haben könnten. SPURLOS VERSCHWUNDEN (SPOORLOOS, 1988) von George Sluizer wurde von Jodey Castricano einmal treffend als „einer der furchterregendsten und unheimlichsten Mystery-Thriller, die je gedreht wurden” bezeichnet.

Ein junges Paar, Rex Hofman (Gene Bervoets) und Saskia Wagter (Johanna ter Steege), unternimmt eine Urlaubsreise nach Frankreich. Unterwegs erzählt Saskia Rex von einem immer wiederkehrenden Traum, der von einem mysteriösen goldenen Ei handelt. Sie sei darin gefangen und es fliege durch das Weltall. Letzte Nacht habe sie jedoch zwei Eier gesehen, in dem anderen befände sich Rex und, wenn diese Eier einmal aufeinandertreffen, seien sie wieder vereint. Saskias Erzählung wird unterbrochen durch zwei Lichter eines Lastwagens, die von ihr mit den goldenen Eiern assoziiert werden. In einem dunklen Tunnel ist der Wagen stehen geblieben. Obwohl Saskia sich fürchtet, geht Rex allein los, um Benzin zu holen. Nach einem Streit vergraben sie unter einem Baum symbolisch für ihre Liebe Münzen, und Rex verspricht, Saskia nie mehr allein zu lassen. Saskia möchte anschließend Getränke kaufen, kehrt jedoch nicht zurück. Drei Jahre später meldet sich der Chemiker Raymond Lemorne (Bernard-Pierre Donnadieu) bei Hofman und erzählt, er habe herausfinden wollen, ob er fähig sei, ein Verbrechen zu begehen.

Sluizers elliptische Erzählweise, unterlegt mit einem teilweise monotonen Score macht SPURLOS VERSCHWUNDEN, der 1988 auf dem Nederlands Film Festival als bester Film ausgezeichnet wurde, zu einem außergewöhnlichen Erlebnis. Markante Bilder, etwa als Saskia in gleißender Helle am Ende des Tunnels auftaucht, Anspielung auf die beiden goldenen Eier bereits im Schriftzug des Titels im Vorspann oder im Schlussbild sowie die häufige Betonung der Farbe Gelb bleiben im Gedächtnis haften. Die Atmosphäre erinnert an TÖDLICHE FERIEN (…AND SOON THE DARKNESS, 1970), worin eine junge Frau während eines Fahrradausfluges in Frankreich verschwindet. Bei der Suche begegnet ihre Freundin einem Mann, der sich als Detektiv ausgibt und von einem nie geklärten Mordfall berichtet. Der Titel des 1993 ebenfalls von Sluizer inszenierten Remakes, THE VANISHING, ist eine deutliche Anspielung an THE SHINING (1980) von Stanley Kubrick. Kubrick soll Sluizer gegenüber einmal geäußert haben, er halte SPURLOS VERSCHWUNDEN für den unheimlichsten Film aller Zeiten, auch für beängstigender als seinen eigenen Film, der ebenfalls mit einer Fahrt ins Ungewisse beginnt. Gerade dieser Anfang wurde von Michael Haneke in seinen beiden Fassungen von FUNNY GAMES (1997 und 2007) zitiert, während Gaspar Noé in IRREVERSIBEL (2002) die Tunnel-Szene aufgreift.

Hofmans Auftritt in einer Talk-Show, in der er auch verkündet, er sei zu allem bereit, um herauszufinden, was mit Saskia geschehen ist, verweist auf Sluizers späteren, unterschätzten Thriller DAS AUGE DES VERBRECHENS (CRIMETIME), in dem es um ein Fernsehformat geht, das sich mit der Aufklärung ungelöster Verbrechen beschäftigt. Auch wenn Hofmans akribische Recherchen mit sozialem Abstieg und der Vernachlässigung seiner aktuellen Freundin einhergehen, erscheint die Darstellung eines Menschen, der an dem Verlust einer nahestehenden Person leidet, glaubwürdig. Vor allem die Möglichkeit, Kriminelle könnten selbst interessiert Berichte über ihre Taten verfolgen oder die Aufklärung eines Verbrechens werde durch den Tod des Täters unmöglich gemacht – eine Sorge, die Hofman einmal äußert – macht die Handlung geradezu beängstigend realistisch. Die Vorlage „Das goldene Ei“ von Tim Krabbé soll sich lose an einem wahren Vermisstenfall orientiert haben und Lemornes Vortäuschen einer Mitleid erweckenden Verletzung ähneln dem realen Vorgehen des Serienmörders Ted Bundy. In DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER (THE SILENCE OF THE LAMBS, 1991) lockt Buffalo Bill mit einem ähnlichen Trick die Senatorentochter in seinen Wagen. Der sich selbst als Soziopath und Klaustrophobiker bezeichnende Lemorne spricht davon, das Schrecklichste tun zu wollen – er tut anderen, ihm völlig unbekannten Menschen, an, was für ihn die schlimmste Vorstellung ist: „Ohne Frage die grauenvollste aller Martern, die je dem Sterblichen beschieden wurde”, wie Edgar Allan Poe in seiner berühmten Erzählung über diese ihm selbst bekannte Angst schreibt. „Das wahre Elend – das tiefste Weh – erlebt der Einzelne, nicht die Gesamtheit.”

Lemorne und Hofman erscheinen manchmal wie Figuren aus dem Poeschen Kosmos: Hofmans Trauer wird zur Besessenheit und Lemornes fixe Idee eines perfekten Verbrechens wird noch erweitert um den Aspekt, dieses auch jemandem mitzuteilen, aber weiterhin straffrei zu bleiben. Lemorne erzählt Episoden aus seinen Leben, wie er einst das Leben eines Kindes vor den Augen seiner Tochter rettete oder als Jugendlicher von einem Balkon sprang – aus dem gleichen Grund, weshalb er sein späteres Verbrechen beging und hierfür eine Begründung liefert, die fast wörtlich aus dem Roman „Die Verliese des Vatikan“ von André Gide übernommen sein könnte und die später auch Hofman wiederholt: Gide nennt darin einen völlig motivlosen Mord einen „acte gratuit, der den Menschen von der Vorbestimmtheit des materiellen Universums befreit, der Punkt, an dem der Mensch sich – unumkehrbar – für seine Freiheit entscheidet.”

Im Kontext, dass Rex sich am Ende mit Saskia vereint sieht – das Tunnelbild vom Anfang wird nochmals gezeigt – , erscheinen die vergrabenen Münzen wie eine Anspielung auf die griechische Mythologie, worin Verstorbenen als Grabbeigaben Münzen für den Fährmann Charon mitgegeben wurden. Im Christentum symbolisieren Eier, deren kalte Hülle wie ein verschlossenes Grab wirkt, Auferstehung und ewiges Leben. SPURLOS VERSCHWUNDEN ist auch ein Film über das Schenken und die Freude, die man nahe stehenden Menschen machen möchte: dem Feuerzeug, das Rex einst von Saskia erhalten hat, fällt am Schluss eine wichtige Bedeutung zu – das flackernde Licht ähnelt wiederum einem goldenen Ei. Der Anhänger mit dem Buchstaben R, den Saskia für Rex erwerben möchte, ermöglicht es schließlich Lemorne, sein Vorhaben umzusetzen. Der Film – eindeutig ein Meisterwerk des psychologischen Thrillers – wirft mehrere philosophische und theologische Fragen auf, ohne hierauf Antworten zu geben und das Publikum wird mit einem beklemmenden Gefühl zurückgelassen.

___________________________________________________________________

Spoorloos, Frankreich/Niederlande 1988 | Regie: George Sluizer | Drehbuch: George Sluizer, Tim Krabbé | Kamera: Toni Kuhn | Musik: Henny Vrienten | Darsteller: Bernard-Pierre Donnadieu, Gene Bervoets, Johanna ter Steege, Gwen Eckhaus u.a. | Laufzeit: 107 Min.

Verwendete Literatur:
Castricano, Jodey (2012): Spurlos verschwunden. In: Schneider, Steven Jay (Hrsg.): 101 Horrorfilme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist. Zürich.
Fuchs, Christian (1995): Kino-Killer. Mörder im Film. Wien.
Poe, Edgar Allan (1984): Die Maske des roten Todes und andere phantastische Fahrten. Mit einem Nachwort von Karl Frenzel. Zürich.