Michael Hanekes „Trilogie der emotionalen Vergletscherung“ – Der Horror der (modernen) Gesellschaft
Von Adrian Gmelch
Die drei frühen Filme des österreichischen Filmemachers Michael Haneke, DER SIEBENTE KONTINENT (1989), BENNY’S VIDEO (1992) und 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS (1994), formen eine einzigartige Trilogie in der jüngeren Filmgeschichte, oftmals bezeichnet als „Trilogie der emotionalen Vergletscherung“ – auch wenn Haneke selbst diese Beschreibung nicht mehr hören kann. Hier präsentiert in einer hochwertigen Blu-Ray-Edition von Camera Obscura.
Menschen am Rande der emotionalen Nichtigkeit
Wer sieht sich einen Film von Michael Haneke freiwillig an? Wohl die wenigsten. In der Tat sind die Filme des Österreichers meist kein Vergnügen, man denke neben der weiter oben genannten Trilogie etwa auch an FUNNY GAMES (1997 und das Remake 2007). Die Werke sind stets eine schwer erträgliche Erfahrung – weit entfernt von Genuss und Unterhaltung! Durch ihre emotionale Kälte und/oder Brutalität sind sie nicht leicht zu verdauen. Niemand kann seinen Filmen jedoch abschreiben, dass sie handwerklich wie inszenatorisch makellos und äußerst intelligent gefilmt sind sowie eine gesellschaftskritische Wahrheit offenbaren, die man selbst lieber verdrängt hätte.
In DER SIEBENTE KONTINENT, BENNY’S VIDEO und 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS zeigt Haneke in nervigen, banalen Szenen erst einmal vor allem Routine, die sich in die Netzhaut des Zuschauers brennt. Eine Routine, die tief in der westlich-kapitalistischen Gesellschaft verankert ist und bedeutungslos und sinnentleert scheint. Die Protagonisten zerbrechen an ihr. Bei der Familie im ersten Film mündet sie im Selbstmord, in BENNY’S VIDEO führt sie zum Mord (der nicht nur durch mediale Bilder passiert, sondern eben auch durch dessen Gleichgültigkeit, die direkt von seiner Umgebung kommt) und im letzten Werk der Trilogie zu einem brutalen und willkürlichen Amoklauf.
Zweitens zeigt Haneke immer und immer wieder die Macht der Medien: Wie sie den Alltag mitgestalten, wie sie die Menschen (unbewusst) beeinflussen, wie sie zur Sinnentleerung beitragen. In jedem Film der Trilogie spielen Radio- oder Fernsehnachrichten eine wichtige Rolle, sie sind andauernd im Hintergrund oder prominent zwischen zwei Szenen zu sehen bzw. zu hören. Und immer werden durch die Medien schlechte, brutale oder beunruhigende Informationen, wie über Kriege oder Katastrophen, verbreitet, die im krassen Kontrast zur so gemächlichen Routine der Gesellschaften in den westlichen Industrieländern stehen und diese – und ja das ist gerade das Perverse – als farb- und ausdruckslos entlarven. Andererseits scheint bei Haneke auch gerade durch die gefährliche „Außenwelt“ der Medien, Brutalität Einzug in das alltägliche Dasein zu finden … oder zumindest „triggern“ sie etwas in den Protagonisten.
Drittens nutzt Haneke dieses heraufbeschworene bedrückende Klima aus Routine und Medienpräsenz als ein Umfeld, in dem Beziehungsprobleme gären. In allen drei Filmen werden nämlich letztendlich emotionskalte und kaputte zwischenmenschliche Beziehungen unter die Lupe genommen. Mal geht es um eine Familie und deren verrückte Beziehung mit der Außenwelt, mal um einen Jungen und dessen missverständliche Kommunikation mit den Eltern, mal um eine ganze Palette an kaputten zwischenmenschlichen Verhältnissen (zwischen Mann und Frau, Tochter und Vater etc.).
Mit seiner Trilogie der emotionalen Vergletscherung liefert(e) Haneke also eine pointierte Kritik an der westlichen Industriegesellschaft (bezogen natürlich auf die 1990er-Jahre).
30 Jahre danach – immer noch aktuell?
Wie ist Hanekes Filmtrilogie über die Jahre gealtert? Ist sie immer noch so relevant wie damals? Wie schlägt sie sich gegenüber den Problemen der modernen Gesellschaft der 2020er-Jahre?
Die Antwort lautet: Gut! Viele Themen sind aktuell geblieben. Gerade BENNY’S VIDEO scheint z. B. wie gemacht für das Social-Media-Zeitalter. Man stelle sich einmal Bennys mediale Welt mit Smartphone und Facebook und TikTok vor – da scheint ein Albtraum vorprogrammiert! Vermutlich hätte er den Mord auch noch live gestreamt … Oder auch die Brisanz von 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS: Hier wird bereits mit der Flüchtlingsthematik gespielt (Wie passen Flüchtlinge in diese sterile, abgestumpfte Gesellschaft?). Und auch durch seine kosmopolitische Dimension, wirkt der Film aus heutiger Sicht sehr modern. Auch die Rolle der Medien hat alles andere als abgenommen, die „traditionellen“ Medien wurden jedoch durch die „sozialen“ ersetzt bzw. um sie ergänzt, was zu einer anderen Art der Vermittlung von Information führt und gerade die Verbreitung von Verschwörungstheorien und fake news fördert.
In keinem der drei Filme bietet Haneke übrigens eine Lösung für die dargestellten Probleme an. Wie hätten die Dramen verhindert werden können? Wie wären die Protagonisten glücklicher gewesen? Einzig die Ferne scheint eine Option zu sein. Sie wird in DER SIEBENTE KONTINENT metaphorisch mit dem Plakat für eine Australien-Reise dargestellt und in BENNY’S VIDEO konkret mit dem Zwangsurlaub in Ägypten. Doch beide Male scheint dies kein wirklicher Ausweg zu sein, eher eine erneute Sackgasse. In 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS ist diese Option dann konsequenterweise auch ganz abhandengekommen.
Gibt es aber jetzt 30 Jahre später eine gesellschaftliche Antwort auf Hanekes diagnostizierte „emotionale Vergletscherung“? Nicht wirklich, denn man könnte sagen, dass alles noch schlimmer geworden ist. Die emotionale Vergletscherung wurde durch zwei Aspekte ergänzt, vielleicht gar verstärkt: einer zwischenmenschlichen Distanzierung und einer überhöhten Künstlichkeit. In der Tat können soziale Medien keine echte soziale Interaktion mit Menschen ersetzen und es entsteht eine weitere Entfremdung und Kälte. Genauso werden Emotionen nur vorgespielt. In sozialen Medien geht es darum, seine emotionalen Momente zu teilen (auch wenn diese in Wirklichkeit überwiegend gestellt und künstlich sind). Bilder und Videos sind im Grunde Fälschungen des eigentlichen Lebens und lassen dieses zunehmend artifiziell erscheinen. Es sind diese nicht realen, künstlichen visuellen Reize, die ein Großteil der Menschen heute in sich aufsaugt. Ein Film von Haneke zu diesem Thema wäre eine echte Bereicherung!
Wer sich Haneke noch einmal aneignen möchte, für den ist diese liebevoll gestaltete Blu-Ray-Edition genau richtig – mit zahlreichen Interviews mit Michael Haneke, einer Dokumentation von Yves Montmayeur sowie dem interessanten, analytischen Booklet-Essay „Die Wunden der Gesellschaft“ von Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger.
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Der siebente Kontinent
Benny’s Video
71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls
Österreich/Schweiz/Deutschland 1989/1992/1994 | Regisseur: Michael Haneke | Drehbuchautor: Michael Haneke | Kamera: Toni Peschke, Christian Berger | Musik: Alban Berg, Karl Schlifelner | Darsteller: Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel, Arno Frisch, Angela Winkler, Ulrich Mühe, Ingrid Stassner, Gabriel Cosmin Urdes, Lukas Miko, Otto Grünmandl, Anne Bennent u. a. | Laufzeit: 108/110/99 Min.
Anbieter: : Camera Obscura
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