52. Filmfestival von Rotterdam 25.1. - 5.2.2023

52. Filmfestival von Rotterdam 25.1. – 5.2.2023

Von Jörg Stodolka

Die 52. Ausgabe des traditionsreichen Filmfestivals von Rotterdam erwies sich als eine der wohl umstrittensten Editionen. Nachdem man über die Jahre immer mehr Verluste in Millionenhöhe eingefahren hatte, zog man jetzt die Notbremse und entließ in einer beispiellosen Aktion über 40 langjährige Mitarbeiter. Eine Aktion, die ob ihrer jegliche Verdienste der Mitarbeiter ignorierenden Konsequenz hohe Wellen schlug und nicht nur in der einschlägigen Presse mit leidenschaftlichster Kritik bedacht wurde. Aufrufe zum Boykott machten die Runde, und nicht wenige Journalisten blieben dem ersten großen Publikumsevent seit dem Beginn der Pandemie fern. Für den Zuschauer änderte sich jedoch eher wenig – gefühlt gab es sogar ein deutliches Plus an bekannten Namen, deren Ausführungen man nach den Filmvorführungen oder in Masterclasses und Talks beiwohnen konnte. Neben Frank Grillo, Steve McQueen und Albert Serra, der seinen stimmungsvollen Film PACIFICTION vorstellte, gab es auch einen viel beachteten Talk mit Anime-Magier und MIND GAME Schöpfer Masaaki Yuasa, dem in diesem Jahr eine ausführliche Retrospektive gewidmet war. Überhaupt meinte man mit einer erhöhten Anzahl von asiatischen Produktionen den Einfluss von Splatting Image-Urgestein Olaf Möller zu bemerken, der in diesem Jahr besonders stark in die Filmauswahl involviert war. Und wer Möllers Talent für das Aufspüren rarer oder einem großen Publikum bisher unbekannter Kleinode kennt, der blickt mit Spannung auf die kommenden Jahre. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest die Auswahl aktueller asiatischer Produktionen in diesem Jahr nicht immer überzeugen konnte. Aber das macht auch gerade den Charme eines Festivals aus, das immer als Wundertüte voller unbekannter Spezialitäten daherkommt, von denen nicht sofort klar ist, welche denn munden werden.

Der philippinische Beitrag IN MY MOTHER’S SKIN war da noch mit seinen Anleihen an lokale Mythen am interessantesten: Während des Zweiten Weltkriegs wird eine wohlhabende Familie verdächtigt, Gold von den japanischen Besatzern gestohlen zu haben. In Sorge um das Wohl seiner Familie, macht sich der Vater auf den Weg vom Dorf in die Stadt, um Unterstützung zu holen. Seine Tochter bleibt zusammen mit dem jüngeren Bruder und der schwerkranken Mutter zurück im großen Haus. Als sich der Zustand der Mutter immer mehr verschlechtert, erhofft sich die Tochter Hilfe von einer mysteriösen Fee, doch diese verlangt Gegenleistungen – mit blutigen Folgen.

Die ärgerlich weichgespülte wie alberne Hongkong Gruselanthologie LET IT GHOST hatte man schon vergessen, bevor der selbstverständlich mit einem Popsong untermalte Abspann lief. Aber auch Legende Mamoru Oshii (GHOST IN THE SHELL) konnte mit der Spielfilmversion seiner Anime-Serie VLAD LOVE über einen Club blutspendender Teenies, die an eine echte Vampirin geraten, nicht vollständig begeistern. Dennoch war es schön zu sehen, dass in I CAN’T STOP BITING YOU zumindest alle Beteiligten mit viel Freude und Engagement bei der Sache waren. Satoshi Mikis CONVENIENCE STORY hingegen über einen Autor mit Schreibblockade, der durch einen Supermarktkühlschrank in eine andere Dimension gerät, wusste durchaus zu überzeugen – schon ob des Wahnsinns der Grundidee und dem zugrundeliegenden philosophischen Subtext, den man bei so einer Geschichte eigentlich gar nicht erwartet hätte.

Ulrich Seidl präsentierte mit seinem Team BÖSE SPIELE-RIMINI SPARTA – eine neue Version seiner Werke RIMINI und SPARTA, bei der das Schicksal zweier Brüder nun nicht Thema jeweils eines einzelnen Films pro Bruder ist, sondern in neuer Schnittfassung miteinander verwoben daherkommt. Der 3½-stündige Film stellt zunächst in Seidl-typischer Sprödigkeit die beiden Brüder bei der Beerdigung der Mutter vor. Als sich die Wege der beiden trennen, folgt er zunächst dem Leben des abgehalfterten Schlagerstars Richie Bravo, der in Rimini vor Seniorengruppen in Touristenhotels auftritt und mit seinen alternden Fans ins Bett steigt, um sich über Wasser zu halten. Seinen Bruder Ewald indes zieht es von seiner Frau weg nach Rumänien, um dort mit Kindern und Jugendlichen eine Art Fort zu errichten – sein Herzensprojekt, bei dem er zunehmend mit seinen pädophilen Neigungen zu kämpfen hat. Mit dem Wechsel zwischen den Erzählebenen in der neuen Schnittfassung stört Seidl immer wieder den Erzählfluss und reißt den Zuschauer aus der Geschichte. Dadurch erleichtert er einen distanzierten Blick auf das Geschehen und lässt Zusammenhänge erkennen, nimmt dennoch gleichzeitig auch ein wenig der nervenzerrenden Intensität. Großartige Hauptdarsteller und die faszinierenden Stilleben von Wolfgang Thalers statischer Kamera passten hervorragend zum grauen Wetter außerhalb des Kinos. Dass der Saal bei der Premiere in Anwesenheit des Filmteams nicht bis auf den letzten Sitz ausverkauft war, mag vielleicht ob der Thematik nicht verwundern, ist aber trotzdem mehr als enttäuschend. Diese Leistung vollbrachte erwartungsgemäß dann Darren Aronovsky, der persönlich seinen neuen Film THE WHALE präsentierte. Leider erwies sich THE WHALE zwar als großartig gespieltes, jedoch inszenatorisch ausgesprochen uninspiriert abgefilmtes Theater mit einer gehörigen Prise religiösen Kitschs, das durch die eher platten Dialoge auch nicht besser wurde.

Von anderem Kaliber waren da die dänischen Produktionen, die in diesem Jahr mit zwei interessanten Filmen vertreten waren: In SUPERPOSITION beschließt eine junge Familie als Experiment für eine Reportage ein Jahr in einem menschenleeren Wald zu leben und dabei fortlaufend über ihre Erfahrungen zu berichten. Der vermeintlich einsame Wald entpuppt sich jedoch jäh als gar nicht so verlassen, und bald wird die Ruhe gestört durch Eindringlinge, die ihnen vertrauter sind als sich es sich je hatten vorstellen können. Die eher generische Prämisse in SUPERPOSITION könnte Ausgangspunkt für einen weiteren der vielen „Cabin in the Woods“-Horrorfilme sein, die ähnlich beginnen. Regisseurin Karoline Lyngbye interessiert sich jedoch nur wenig für das reine Spannungspotenzial, sondern inszeniert den Film als Beziehungsdrama, das Geschlechterrollen hinterfragt und die Beziehungen der Protagonisten immer wieder neu definiert. Damit ist SUPERPOSITION alles andere als ein Horrorfilm, und gerade in der zweiten Hälfte wäre von der Erzählung noch einiges an Raffinesse mehr drin gewesen. Dennoch weiß das Werk durch seine originelle Grundidee zu fesseln.

Ein weiterer Film aus Dänemark erlebte in Rotterdam seine Weltpremiere: In COPENHAGEN DOES NOT EXIST verschwindet eine junge Frau spurlos. Ihr Vater lädt den Freund der Tochter zu einer mehrtägigen Befragung in eine mondäne Villa, um die Hintergründe ihres Verschwindens aufzudecken. Dieser kann sich jedoch an die entscheidenden Momente nicht mehr erinnern. So werden seine Beschreibungen immer mehr auch zu einer Reise in die eigene Vergangenheit voller ambivalenter subjektiver Erinnerungsfragmente. Martin Skovbjergs Film kommt als mysteriöses Bilderrätsel daher und wandelt sich immer mehr zu einem der vielleicht schönsten Liebesfilme seit langem – ohne jedoch seine Ambivalenz zu verlieren, denn letztendlich geht es doch um die Psychopathologie der Protagonisten, die der Gesellschaft überdrüssig sind. Am Ende der ersten Vorführung, die vom Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde, standen dann mit Angela Bundalovic und Zlatko Buric genau die Schauspieler auf der Bühne, die gerade Nicolas Winding Refns COPENHAGEN COWBOY bevölkert hatten. Einer der schönsten und interessantesten Filme des Festivals.

Dass auf Festivals immer wieder wunderbare Entdeckungen möglich sind, zeigte auch die Weltpremiere von LIKE SHEEP AMONG WOLVES – ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlicher Beitrag zum Genre des Polizeifilms. Nicht nur, dass eine Frau Regie führte – neben Jane Campion und Kathryn Bigelow machten sich Frauen bei solchen Themen bislang eher rar – er markiert auch einen Beitrag in der Reihe der Poliziotteschi, stammt diese modern feminine Variante doch endlich einmal wieder aus Italien. COME PECORE IN MEZZO AI LUPI ist das Langfilmdebüt der jungen Lyda Patitucci, die sich bislang als Regieassistentin und Second Unit Regisseurin für Actionszenen (u.a. für [REC]3) einen Namen machte und schließlich 2020 einige Episoden der italienischen Mysteryserie CURON inszenierte. Ihre Protagonistin ist eine überaus harte, desillusionierte Polizistin, die immer mehr zwischen ihrer Rolle als Undercover Agentin und ihrem Privatleben aufgerieben wird. Während sie in einem gefährlichen Balanceakt jenseits der Legalität versucht, Waffen zu besorgen für eine Bande serbischer Schwerkrimineller, die mitten in Rom einen Überfall planen, bekommt der Fall auch für sie persönlich eine ganz neue Dimension, als sie ihren jüngeren Bruder im Kreis der Gangster entdeckt. Das ist hervorragendes in grau-monochromen Bildern erzähltes Spannungskino par excellence mit einer verletzlichen, realistisch gezeichneten Heldin.

Eine andere Reminiszenz zum italienischen Spannungskino der 70er lieferte CAIRO CONSPIRACY. Regisseur Tarik Saleh zeigt die politischen Intrigen an einer islamischen Eliteuniversität, deren Machtelite sich fast selbstverständlich aus religiösen Führungspersönlichkeiten zusammensetzt. Ganz in der Tradition der legendären italienischen Politthriller der 70er Jahre folgt er dem Schicksal eines jungen Mannes, der sich zunächst glücklich wähnt, als Einziger seines Dorfes zur berühmten Eliteuniversität in Kairo zugelassen zu werden. Seine Ideale und Naivität werden jedoch bald auf eine harte Probe gestellt, als er sich inmitten eines lebensbedrohlichen Komplotts wiederfindet. Dabei sind gerade die Szenen, die sich aus der islamischen Tradition speisen, durch die Thematisierung hierzulande eher unbekannter Bräuche von besonderer Faszination. Ein Wettbewerb im Koransingen wird dabei gerade für die Besetzung einflussreicher Posten von besonderer Wichtigkeit und ist eine beeindruckende Schlüsselsequenz des Films. Am Ende steht die fast schon selbstverständliche, aber packend aufbereitete Erkenntnis, dass Religion in allen Kulturen eher das Gegenteil der eigentlich humanistischen Botschaft zur Folge hat und nur einem korrumpierten System zum Machterhalt dient.

Thematisch lieferte die Filmauswahl der 52. Ausgabe des Filmfestivals von Rotterdam mit einem Schwerpunkt auf Identitäten und deren Krisen wohl eher unfreiwillig einen Kommentar zu einem Festival im Umbruch. In welche Richtung es gehen wird, können wir hoffentlich im kommenden Jahr verfolgen.

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