Wenn der Schwanz wegfliegt… – und andere Tendenzen beim Far East Film Festival 24 in Udine, 22.4.-30.4.2022   / 1. Teil

Wenn der Schwanz wegfliegt… – und andere Tendenzen beim Far East Film Festival 24 in Udine, 22.4.-30.4.2022 / 1. Teil

Von Peter Clasen

Vorbemerkung:
1.) Die Veröffentlichungsjahre der neuen Filme sind wegen der Covid-Pandemie stark unzuverlässig, daher verzichte ich auf sie. Sie liegen alle zwischen 2019 und 2022.
2.) Der internationale, englischsprachige Titel soll genügen. Interessierte schlagen die Originaltitel bitte in der IMDb nach, danke!
3.) Auch wenn es nicht so aussieht: Dies ist nur eine Auswahl der Filme!

Die letzte große Show war 2019. Hongkong-Kultstar Anthony Wong nahm für sein Lebenswerk den Golden Mulberry Award entgegen, das in Akryl gegossene Maulbeerbäumchen. Ein halbes Jahr später wurde es finster. 2020 fand das Festival nur digital statt, wobei nur Italiener das volle Programm abrufen konnten. Wer sich sich z.B. aus Deutschland dazuschaltete, dem stand nur knapp die Hälfte aller Filme zur Verfügung. Denn Ländergrenzen sind auch Marktschranken. 2021 wurde es immerhin hybrid: Ein leicht minimiertes Festival vor Ort, wenn auch an anderem Platze, dazu ein digitales Angebot zu den bekannten Konditionen.

2022 war nun die alte Herrlichkeit wieder hergestellt: Neun Tage volles Programm mit jeweils fünf bis sechs Filmen, in Anwesenheit Dutzender Regisseure, Produzenten, Stars. Nur einer war nicht gekommen: Takeshi Kitano, diesjähriger Gewinner des Mulberry Award. Im Live-Stream entschuldigte er sich mit Omikron und Ukraine. Angesichts unerschrockener Kracher wie SONATINE oder BATTLE ROYALE (liefen beide im Rahmenprogramm) war das doch etwas, äh, kleinlaut.

JAPAN

Bleiben wir geich in Japan und beginnen mit etwas lustigem für die Kinder: Da wo Godzilla und Co. aufhören, fängt WHAT TO DO WITH A DEAD KAIJU? (Regie: Miki Satoshi) erst an: Das böse Monster ist tot, liegt unnütz in der Gegend rum, wer macht es jetzt wieder weg? Natürlich die JSF, die Japan Special Forces! Die Sache ist klar, hat aber ihre Tücken, z.B. eklige Gärungsprozesse im Riesenfleischklops… Miki Satoshi war übrigens der einzige Regisseur des Festivals, der den Mut besaß und die Anteilnahme aufbrachte, den Elefanten im Zimmer beim Namen zu nennen: In seinem Video Greeting wünschte er allen Zuschauern, dass der Krieg in der Ukraine bald vorbei sein möge… Arigato!

Für das xenophobe Japan ungewohnt selbstkritisch erzählt das aufklärerische Jugenddrama MY SMALL LAND (von Kawawada Emma) von einer 17-jährigen Kurdin, die mehrfach alles verliert: Sarya ist eigentlich gut integriert, gibt sich aber doch lieber als Deutsche aus, das ist hier exotisch genug. Als die Behörden ihre Familie, die vor der türkischen Verfolgung geflohen war, nicht als Flüchtlinge anerkennen, ist Sarya und ihrem Vater die Arbeit untersagt – und Sarya darf auch ihren Freund Sato in Tokio nicht mehr besuchen…

Wieder etwas Gesellschaftskritik, angereichert mit schwarzem Humor: Die Murder Mystery NOISE (Hiroki Ryuichi) wirkt ein bisschen wie eine Chabrol’sche Provinzsatire aus Südfrankreich: Auf einer kleinen, abgehängten Insel, wo köstliche schwarze Feigen gedeihen, träumt man vom wirtschaftlichen Aufschwung. Stattdessen bringt ein obskurer (erster) Mordfall ans Licht, wo in der sauberen Gemeinde die faulen Früchte wachsen…

Etwas Kunstgewerbe zwischendurch: JUST REMEMBERING (Matsui Daigo) erzählt von der Liebe eines Balletttänzers zu einer Taxifahrerin, doch irgend etwas ging schief… Erst wird für jedes Jahr der Beziehung ein einzelner Tag herausgegriffen, es ist stets der 26. Juli, dann werden alle Jahre munter durcheinander gemischt. Emoreduziertes Designerkino für Kreuzworträtselfreunde.

Richtig sexy dagegen: der Minireigen LOVE NONETHLESS (Jojo Hideo), der an die Tradition der legendären „pinku eiga“ anknüpft, also ein Sexfilm mit richtiger Handlung: Schülerin Misaki, 16 Jahre jung, liebt den Buchhändler Mr. Tada, 30, und trägt ihm die Ehe an. Doch Tada ist zu schüchtern und zu vernünftig. Parallel stehen Mr. Ryusuke und seine Ikka kurz vor der Hochzeit. Doch Ryusuke ist schon jetzt nicht treu. Was folgt, ist ein gewisser „Austausch“ zwischen beiden Paaren… Wir lernen: Übung macht den Meister! Aber nicht unbedingt klüger… Dafür vergab das Festival den Preis für das beste Drehbuch!

„I don’t like girls who move“: Der schaurig-tragische MISSING (Katayama Shinzo), eine japanisch-südkoreanische Co-Produktion, beginnt als Serienkillerthriller, ehe er zum abgründigen Familien- und Gesellschaftsdrama umschwenkt: Der arbeitslose Herr Satoshi glaubt, er habe auf der Straße einen gesuchten Frauenmörder gesehen und will sich das Kopfgeld holen, wenig später ist Satoshi spurlos verschwunden. Seine halbwüchsige Tochter Kaede nimmt Vaters Spur auf – was sie erlebt, stellt ihre ganze Welt auf den Kopf… Düsterer Stoff bei schönstem Sonnenschein!

Der Film, mit dem ich euch geködert habe, die Männerpanik-Sexgroteske POPRAN (Ueda Shinichiro): Manga-Verleger Tagami, ein echter Arsch, verliert über Nacht seinen Penis. Der hat nämlich seinen eigenen Willen und ist einfach weggeflogen. Sechs Tage hat Tagami nun Zeit, ihn zu finden und wieder einzufangen. Doch wo hat sich der Kleine nur versteckt? – Anders als erwartet, nämlich jugendfrei, entfaltet sich eine moralische Geschichte über Schuld und Sühne. Mit surrealen Momenten: Mal flattert der Pimmel wie ein Schmetterling umher, mal fetzt er wie eine Rakete über die Stadt…

Hier noch ein japanischer Klassiker, das restaurierte Gangsterdrama PALE FLOWER von 1964 (Shinoda Masahiro), ein schwarzweißer Scope-Film im modernen Stil von Michelangelo Antonioni und der Nouvelle Vague: Gangster Muraki, gerade aus dem Knast entlassen, entdeckt in seiner Lieblings-Spielhölle die schöne, geheimnisvolle Saeko. Sie verleitet ihn zu immer höheren Einsätzen – und verstrickt ihn in eine selbstzerstörerische Liebesbeziehung… Man könnte süchtig nach dem (Jazz-) Film werden, und Martin Scorsese ist es schon: Er soll PALE FLOWER etwa 30 Mal gesehen haben. Zusammen mit George STAR WARS Lucas sicherte er sich die internationalen Rechte.

HONGKONG

So schön wie früher wird’s nie mehr. 2005, als der jetzt restaurierte INITIAL D (Andrew Lau, Alan Mak) in die Kinos kam, war Hongkong zwar schon von den Briten an China zurückgegeben worden, aber politisch noch weitgehend eigenständig. So weht durch dieses Rennsport-Jungsabenteuer nach den japanischen Kultcomics von Shuichi Shigeno eine fröhliche Unbekümmertheit, die heute staunen macht. Sieht man Jay Chou, Edison Chen, Shawn Yue und Chapman To als pubertäre Auf-die-Tube-Drücker oder Anthony Wong als väterlichen Tofumann, möchte man fast weinen. Wer will da jetzt noch die Story wissen?

Ebenfalls zum Weinen, wenn auch anders, ist LEGENDARY IN ACTION! (Justin Cheung). In der Film-im-Film-Komödie will ein Ex-Regiewunderkind das Remake einer legendären Kung-fu-Serie drehen, doch der Star von einst ist nicht mehr fit, und auch sonst klappt wenig… Die alte Wuxia-Herrlichkeit ist definitiv vorbei, dieser halbgare Film ist der letzte Beweis.

Der Trend geht zu kleinen Geschichten um Introspektion und Migration. Drei Frauenfilme als Beispiele: In SUNSHINE OF MY LIFE erinnert sich Regisseurin Judy Chu an ihre Eltern, die beide blind sind… Im technisch geschliffenen TWELVE DAYS erzählt Aubrey Lam in zwölf Tagen sprich Eskalationsstufen vom Scheitern einer Liebe. Und in FINDING BLISS: FIRE & ICE begleitet Kim Chan die angesagte Hongkong-Band „Josie & The Boys“ nach Island, zu Psychoworkshop und Gruppenmusizieren mit Island-Stars. Josie Ho hört und sieht genau hin: In Hongkong habe die englische Sprache nach 1997 kontinuierlich abgenommen, immer mehr Menschen verlören ihre Identität, und in punkto „Glücklichsein“ rangiere die Millionenstadt nur noch auf Platz 74 des Weltrankings, sagt Josie.

Das etwas andere Stadt-Roadmovie FAR FAR AWAY (Amos Why): Der junge IT-Spezialist Hau lernt nacheinander fünf Frauen kennen, die leider alle in den äußersten Ecken von Hongkong wohnen – oft ist Hau stundenlang unterwegs, in Bussen oder auf Fähren… Ein bunter, schöner Location Guide für Hongkong-Urlauber: Dass die Stadt so weitläufig, ländlich, historisch oder insularisch ist, wusste man ja gar nicht. Als romantische Komödie leider eine Pleite: Der Hauptdarsteller ist krass fehlbesetzt, ein totaler Langweiler.

Letzter Hongkong-Eintrag, der Exodus nimmt Formen an: Am TABLE FOR SIX (Sunny Chan) diskutieren drei junge Männer und drei junge Frauen, wie sie wohnen, lieben, leben wollen… Das Kammerspiel im gehobenen Sitcom-Stil kommt kunterbunt und locker daher, doch das ist reine Fassade. Tatsächlich ist der Film ernst und eminent politisch, indem er die Frage verhandelt, ob Hongkong noch eine Heimat ist, ob es jungen, wachen Leuten noch eine Zukunft bieten kann. Erstaunlich, dass ein derart kritischer Film noch produziert werden konnte.

VOLKSREPUBLIK CHINA

Der grandiose, in den 1990ern spielende Actionthriller CAUGHT IN TIME, den der Hongkong-Chinese Lau Ho-leung (ein enger Mitarbeiter von Johnnie To) in Festlandchina drehte, ist einer dieser Filme, für die man nach Udine fährt: Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen einer mörderischen Räuberbande (als mieser Anführer: Ex-Zuckerbube Daniel Wu) und einem polizeilichen Ermittlerteam knüpft an Hongkongs beste Zeiten an, bevor uns ein propagandistisches Schock-Ende in die chinesische Realität zurückholt: Die kriminellen Exzesse von einst seien gründlich vorbei, gedankt sei es moderner Überwachungstechnik und strikter Rechtssprechung, versichern uns ein paar Schrifttafeln, nachdem der Staat gerade rigoros sein Gewaltmonopol wahrgenommen hat…

Anderes Genre, prinzipiell aber nicht ganz unähnlich: In der herzigen, wahren Aufsteigergeschichte NICE VIEW (Wen Muye) bringt es ein junger Mann (Teenpopstar Jackson Yee) vom Handyschrauber zum Millionär à la Steve Jobs. Vollends ergreifend: das mildtätig-staatstragende Ende! Denn auch die Mitarbeiter werden reich und glücklich und gründen lauter kleine Stiftungen für die Armen und Benachteiligten der Gesellschaft… So soll es sein! Gibt es in China auch IMAX-optimiert!

Unterthema: Männerbilder! In der romantischen Komödie THE ITALIAN RECIPE (Hou Zuxin) geht ein chinesischer Teenpopstar in Rom verloren und verliebt sich in eine prekär beschäftigte Exil-Chinesin… Der schreckliche Plastikfilm, der das Festival eröffnete, ist dem berühmten Vorbild EIN HERZ UND EINE KRONE (ROMAN HOLIDAY, USA 1953, mit Gregory Peck und Audrey Hepburn) nachempfunden, also mit Vespa, aber ohne Charme. Interessant: Hauptdarsteller Xun Liu ist ein typischer Vertreter jener hauchzart-edelfeinen Jüngelchen, die von Korea aus ganz Asien eroberten, und die Präsident Xi Jinping inzwischen ächten ließ. Außerdem gibt es einen dezidiert schwulen Charakter im Film, das ist genauso schwierig. 2020 fertiggestellt, könnte THE ITALIAN RECIPE heute als längst überholt gelten. Chinesische Filmhelden müssen jetzt wieder stark und männlich sein, selbst wenn sie noch Kinder sind und es sich um einen (digitalen) Trickfilm handelt: In I AM WHAT I AM (Sun Haipeng) sieht der jugendliche Drachentänzer Ah Juan erst ein bisschen wie ein Mädchen aus. Doch dann werden ihm die langen Haare gestutzt, und mit der neuen Frisur gehen – irgendwie – auch Zuversicht und sportliches Können einher… Voilà!

Ein besonderes China-Schmankerl, die pechschwarze Komödie MANCHURIAN TIGER (Geng Jun): Irgendwo in einer eiskalten, abgehängten Industrielandschaft hat Baumaschinenfahrer Dong Xu eine schwangere Frau, eine heimliche Geliebte und jede Menge Schulden. Aber die hat hier jeder. Um Platz fürs Baby zu schaffen und nebenbei ein wenig Geld zu machen, besorgt er seinem geliebten Hund Ruyi ein neues Heim – wo Ruyi nur leider im Kochtopf landet, als Festmahl für ein paar Gläubiger. Das kann Xu natürlich so nicht hinnehmen… MANCHURIAN TIGER ist einer jener mutigen Filme, die das gewöhnliche bis hässliche China von heute zeigen, eine Mischung aus Sozialburleske und absurdem Theater. Schmutzig, gemein, grotesk. Und überragend gestaltet. Eigentlich unbedingt preiswürdig, aber auch die Udinesen wollen lieber „schöne“ Filme. Schade.

(Fortsetzung folgt)

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