König der Murmelspieler

König der Murmelspieler

Von Guy Montag

St. Louis, Missouri, 1933. Mitten in den Auswirkungen von Börsencrash, Inflation und Großer Depression wächst der zwölfjährige Aaron Kurlander (Jesse Bradford) in der Stadt am Westufer des Mississippi-Flusses auf. Gemeinsam mit seinen Eltern (Jeroen Krabbé, Lisa Eichhorn) und dem jüngeren Bruder Sullivan (Cameron Boyd) lebt er während der Weltwirtschaftskrise in einem heruntergekommenen Hotel. Um sein wahres, von Geldknappheit und Existenzangst geprägtes Leben zu verheimlichen, erzählt Aaron in der Schule Lügengeschichten über sich und seine Familie. Als sein Bruder verschickt, seine Mutter ins Krankenhaus eingewiesen wird und sein Vater als Handelsvertreter nur noch durch die Bundesstaaten jagt, ist Aaron plötzlich fast ganz auf sich allein gestellt. Gemeinsam mit seinem älteren und gewitzten Kumpel Lester (Adrien Brody) ist es seine Fantasie, die ihm durch allerlei Widrigkeiten und Abenteuer hindurchhilft.

Steven Soderbergh, später Oscar-prämierter Hollywoodregisseur und seit seinem Erstling SEX, LÜGEN UND VIDEO (1989) von den Feuilletons gefeierter Auteur, hatte mit seiner sperrigen Expressionismushuldigung KAFKA (1991) die Kritiker etwas ratlos zurückgelassen. Auch das Publikum konnte mit dieser verschachtelten Independentproduktion wenig anfangen und mied den Streifen. Daher mutmaßten die Spötter, Soderbergh wolle sich mit dem unprätentiösen KÖNIG DER MURMELSPIELER eher anbiedern als neu erfinden. Doch diese Vorwürfe gingen damals wie heute ins Leere, denn bei genauerer Betrachtung fällt der typische Soderbergh-Touch schon in den ersten zehn Minuten des Films auf. Wie die Zuschauenden hier sukzessive in die facettenreiche Welt des kleinen Aaron förmlich hineingesogen und schon kleine Gesten, Blicke und Stillleben etabliert werden, deren Entschlüsselung und Neukodierung erst im Laufe des Filmes erfolgen, offenbart die ganze Meisterschaft des Regisseurs. Soderbergh erzählt die auf autobiographischen Jugenderfahrungen des Schriftstellers A. E. Hotchner basierende Geschichte konsequent aus der Perspektive eines fantasiereichen zwölfährigen und lässt Fokusverschiebungen bewusst aus. So entsteht ein vielseitiges und vor allem dicht-kindgerechtes Bild einer Zeit der Entbehrungen, die umso mehr die Fantasie zu beflügeln schienen.

Aaron benutzt seine gedankliche wie sprachliche Imaginationsfähigkeit sowohl für seine persönliche Situation – nur dadurch kann er seine zerbrechliche und durch die Umstände arg bedrängte Kinderseele vor den mitunter tragischen Erfahrungen schützen und Kraft für die nächsten Schritte aufbringen – als auch für die ihn begleitenden, ebenfalls nicht auf der Sonnenseite des Lebens wandelnden Mitmenschen. Mit Mut und Einfallsreichtum hingegen schlägt er jenen ein Schnippchen, die ihren Argwohn und kleinen Niederträchtigkeiten an den Schwachen der Gesellschaft auslassen – sie bekommen von Aaron stets gezeigt, dass nur die (Mit)-Menschlichkeit letztendlich dieses Leben lebenswert macht.

Auch die allgegenwärtigen Klassenunterschiede spart KÖNIG DER MURMELSPIELER nicht aus; Aaron muss sich in einer Welt zurechtfinden, in der hinter jeder Straßenecke der soziale Absturz zu lauern scheint. Soderbergh trifft in der formidablen Schilderung einer Kindheitsentwicklung exakt den richtigen Ton, zeigt die Unfähigkeit des leistungsorientierten Schulsystems auf, dass nur in Noten misst und nicht in wirklichen Talenten.

Soderbergh verpackt seine transformatorische Coming-of-Age-Geschichte in situativen Kamerabildern, taucht das St. Louis, wie Aaron es wahrnimmt, in warme, artifizielle und mit leichtem Sepia-Look ausstaffierte Farben, die wie aus einem Edward Hopper-Gemälde entsprungen scheinen. Die stets etwas verschwitzt erscheinenden Schauspieler – allen voran ein wundervoll natürlich agierender Jesse Bradford, der mit agilem Witz aufspielende Adrien Brody sowie der seinem Bond-Bösewicht-Image entfliehende Jeroen Krabbé – kontrastieren effektvoll mit den durchkomponierten Optiken aus den beiden Gesellschaftsschichten, in denen sich die Handlung abspielt.

Des Komponisten Stammtonsetzer Cliff Martinez verziert alles mit geistreicher Untermalung, die mal mit synthetischen Streicherflächen und kleinen Instrumentierungen arbeitet, andernorts dann mit großem Orchester und hingetupften Klangausbrüchen arbeitet. KÖNIG DER MURMELSPIELER entzieht sich mit seinem bunten Fächer an Emotionen jeglicher Rubrizierung, offenbart die unverstellten Fähigkeiten des Träumens und Wunscherfüllens von Kindern, an die wir alle – mal wehmütig, mal freudig erinnernd – mitunter zurückdenken; ein jeder in seiner Zeit.

Vor einiger Zeit erschien KÖNIG DER MURMELSPIELER als Kombiformatrelease im gutaussehenden Mediabook, wobei neben der vorzuziehenden Blu-ray auch eine DVD enthalten ist. Der Bildtransfer zeigt durch seine 2K-Abtastung neueren Datums ein farbenfrohes und kontrastreiches Cinemascope-Bild. Während der Originalton in DTS-HD 5.1 vorliegt, muss man sich für die deutsche Synchronisation mit einem moderaten, dennoch fein abgemischten Stereoton bescheiden – doch aufgrund der wundervollen Sprecher wie Fred Maire sollte man hier mehr als ein Ohr riskieren.

Die Extras gestalten sich übersichtlich aber interessant: neben einem zeitgenössischen, rund sechsminütigen Making Of – in dem neben Regisseur Soderbergh auch die Schauspieler Jesse Bradford, Jeroen Krabbé und Lisa Eichhorn zu Wort kommen – gibt es neun Minuten an Deleted Scenes, die in ihrer ungefilterten Rohheit den Inszenierungstrieb Soderberghs sattsam erkennen lassen. Weiter ist einiges an B-Roll-Material von den Dreharbeiten sowie der deutsche und amerikanische Trailer enthalten. Eine interessante Entschlüsselung des Films zeigt der im Booklet enthaltene Filmessay „Wahre Lügen“ von Gabriele Hofer, entnommen dem von Frank Arnold herausgegebenen und auch sonst sehr empfehlenswerten Buch „Experimente in Hollywood – Steven Soderbergh und seine Filme“.

KÖNIG DER MURMELSPIELER stellt im Schaffen Steven Soderberghs ein zu Unrecht vergessenes Zwischenwerk dar. Höchste Zeit also sich wieder einmal in die Kindheit zurück zu träumen und diesem Film zu weiterer Bekanntheit zu verhelfen. Denn durch die Augen des heranwachsenden Aaron lässt sich eintauchen in eine Welt, die von Entdeckungen und Vorwärtsdrang geprägt ist – und in der der kindlichen Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.

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King of the Hill | USA 1993 | Regie: Steven Soderbergh| Darsteller: Jesse Bradford, Jeroen Krabbé, Lisa Eichhorn, Karen Allen, Adrien Brody, Katherine Heigl u.a.

Anbieter: : Vocomo Movies