Milano Kaliber 9

Milano Kaliber 9

Von Jörg Stodolka

Das Genre der Polizieschi erfreute sich in Italien Ende der 1960er Jahre wachsender Beliebtheit. Thematisch mit den amerikanischen Polizei- und Gangsterfilmen verwandt, und oft genug von diesen inspiriert, blieben die italienischen Interpretationen jedoch näher an der ungeschminkten Realität des Gangsterlebens. Der Verzicht auf jegliche verklärende Romantisierung machte den Raum frei für exploitative Schauwerte und die Filme damit oft interessanter als ihre amerikanischen Vorbilder. Zimperlich war man nie, was Sex und Gewalt betraf, und fügte ganz nebenbei oft auch einen sozialkritischen Kommentar über die Verhältnisse im Staat hinzu. Mit MILANO KALIBER 9 veröffentlicht filmArt nun einen der bedeutendsten Vertreter des Genres in einer sehr empfehlenswerten Edition als Blu ray/DVD Combo. Fernando Di Leos Film ist der erste Teil seiner Gangstertrilogie, die mit DER MAFIABOSS fortgesetzt wurde und mit DER TEUFEL FÜHRT REGIE ihr Ende fand.

Milano_Kaliber_PosterBei einem Raubüberfall werden 300.000 Dollar erbeutet, doch das Geld verschwindet. Gangster Ugo (Gastone Moschin) wird als Einziger gefasst und muss für drei Jahre ins Gefängnis. Kaum entlassen, warten die Handlanger seines ehemaligen Auftraggebers auf ihn. Allen voran Rocco (Mario Adorf), ein gefährlicher Schläger, der ob seines bebenden Temperaments immer kurz vor der Explosion steht und drohenden Worten bald härtere Taten folgen lässt. Überzeugt davon, dass Ugo das Geld beiseite geschafft hat, macht er ihm im Auftrag eines gefürchteten amerikanischen Mafiabosses (Lionel Stander als „der Amerikaner“), die wiedererlangte Freiheit zur Hölle. Auch die Polizei heftet sich an Ugos Fersen, doch hat sie es nicht eilig damit, dem Ex-Häftling in seiner prekären Lage zu helfen, zumal dieser wieder unter den Einfluss des Amerikaners gerät, den sie schon länger zu fassen suchen. Während Moschin als stoischer, wortkarger Gangster seine Emotionen in Film-Noir -Manier gut zu verbergen weiß, gibt ein hyperaktiver, nahe an der Karikatur agierender Mario Adorf als brutaler Schläger den ganzen Film über Vollgas. Da werden in Ungnade gefallene Komplizen auch mal zu dritt aneinander gefesselt und weggesprengt. Interessanterweise ist aber gerade er es, der zum Ende hin als einziger Charakter einen Hauch von Ehrgefühl entwickelt, auch wenn das für andere den Tod bedeutet. Und gestorben wird viel im Mailand der Siebziger Jahre.

Die FilmArt-Edition von MILANO KALIBER 9 enthält neben der deutschen auch die mehr als sechs Minuten längere italienische Kinofassung. Beide Versionen sind mit deutscher Tonspur vorhanden. Die fehlenden Stellen sind in italienischer Sprache und deutsch untertitelt. Herausgekürzt wurden seinerzeit mitnichten Gewaltszenen, sondern ausschließlich Gespräche unter Polizisten, und damit fast völlig der politische Subtext des Films. Die Diskussionen des frisch versetzten Inspektors mit seinem altgedienten Kollegen und Vorgesetzten zeugen exemplarisch vom Konflikt zweier Wertesysteme, wie er mit dem Aufkommen der studentischen 68er-Bewegung an der Tagesordnung war. Auf der einen Seite der linksidealistische, kritisch denkende junge Mensch, der die Ursachen der Kriminalität in der Gesellschaft sucht, auf der anderen der träge, faschistoide Repräsentant eines korrupten Staates, dem es den Gangstern gar nicht brutal genug an den Kragen gehen kann, und der auch gerne mal wegschaut, wenn es bei Gewalttaten den Richtigen trifft. Wem die Sympathie des Regisseurs gehört, wird in diesen Szenen mehr als deutlich – wen die für die deutschen Kürzungen Verantwortlichen bevorzugten, allerdings auch. Gerade diese bislang fehlenden Szenen sind es, die eine weitere Bedeutungsebene erschließen lassen und das Schicksal Ugos sozialkritisch kommentieren. Dass Di Leo am Ende ein ausgesprochen pessimistisches Fazit zieht, liegt in der Natur der Sache – und ist bei heutiger Sichtung von erschreckender Aktualität, denn viel verändert hat sich seit 1971 offenbar nicht.

Milano_Kaliber_2Vor allem ist MILANO KALIBER 9 aber ein ausgesprochen packender Gangsterfilm, dessen Story einige überraschende Wendungen zu bieten hat und weit weniger linear und simpel daherkommt, als es zunächst scheint. Er ist ausgesprochen sorgfältig konstruiert, schön inszeniert und verleiht seinen Charakteren immer mal wieder überraschende Tiefe, die sie davor bewahrt, zu reinen Stereotypen zu verkommen. Völlig zu Recht hat er unter heutigen Genreregisseuren viele Bewunderer – die Hülle der DVD nennt Quentin Tarantino. Und sieht Jason Statham nicht immer ein wenig aus wie eine moderne Version Gastone Moschins?

Kameramann Franco Villa hat das Geschehen in dynamischen Bildern eingefangen, die neben sorgfältig vorausgeplanten Bewegungen (sehr schön die Art und Weise, wie er Innenräume erschließt) oft auch eine improvisatorische Qualität haben, die dem Gefilmten einen gewissen Realismus verleiht. Akustisch ergänzt wird die visuelle Ebene von Luis Bacalovs wunderbar melancholischem Soundtrack. So wie Bacalovs Hauptthema immer wieder in energiegeladene funkig-rockige Passagen der italienischen Progressive Rock Band Osanna übergeht, wechselt auch das Tempo des Films von ruhigen Momenten zu deftigen Gewaltausbrüchen. Bacalov hatte übrigens schon vorher mit Di Leo an einem Projekt gearbeitet, als er die Musik zu DJANGO komponierte, für den Di Leo wiederum zwar nicht als Regisseur tätig war, sondern das Drehbuch schrieb. Großartig ist Barbara Bouchets delirierende Tanzszene im Stripclub, bei der Ton und Bild zu einer perfekten Einheit verschmelzen. Überhaupt bietet die einzige Frauenfigur im Film einige überraschend emanzipatorische Nuancen, denn Frau Bouchet als Freundin Ugos ist hier einmal mitnichten ausschließlich das Sexobjekt, das sie in vielen anderen Filmen verkörpert.

Milano_Kaliber_1Abgerundet wird die FilmArt-Edition durch eine fundierte Einführung mit vielen Hintergrundinformationen von Marcus Stiglegger, einer über halbstündigen Dokumentation über den Regisseur und seine Bedeutung für das Genre, sowie Erinnerungen vieler Beteiligter an die Dreharbeiten. Es gibt verschiedene Trailer und ein Musikvideo. Schön ist auch das Booklet, das neben dem deutschen Aushangfotosatz auch verschiedene Plakatmotive und einen Auszug aus dem damals zum Film erschienenen „Neuen Filmprogramm“ enthält. Bild- und Tonqualität des Hauptfilms sind ohne Beanstandungen, wobei die italienische Tonspur dumpfer klingt als die klare deutsche Synchronfassung. Das HD-Bild hat knackige Farben und dankenswerter Weise keine Scheu vor Filmkorn. Die beiden interessanten Dokumentationen aus dem Jahre 2003 liegen nur in SD vor, haben unterschiedliche Bildformate (16:9 und 4:3) und deutsche Untertitel, doch bieten sie die Möglichkeit Di Leo noch im Interview zu erleben, der noch im selben Jahr starb. Insgesamt eine erschöpfende Materialsammlung, die man nicht nur Genrefans, sondern auch Freunden des Zeitkolorits der Siebziger bedenkenlos empfehlen kann.

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Milano Calibro 9, Italien 1971 | Regie: Fernando Di Leo | Darsteller: Gastone Moschin, Mario Adorf, Lionel Stander, Barbara Bouchet, Frank Wolff u.a. | Laufzeit: 100 min.

Anbieter: filmArt