Das Nunsploitation-Genre und Gianfranco Mingozzis „Flavia, la monaca musulmana“
Von Gerd Naumann
Mit der sexuellen Liberalisierung der italienischen Öffentlichkeit wurden ab den ausklingenden 1960er Jahren auch die italienischen Filme offenherziger und zeigefreudiger. Ein in dieser Hinsicht beispielhaftes Genre ist das der Nunsploitation-Filme. Die oft innerhalb geschlossener Klostermauern angesiedelten Szenarien folgen im Regelfall einer einheitlichen, von Jacques Rivettes skandalumwitterter Diderot-Verfilmung LA RELIGIEUSE (DIE NONNE, 1966) etablierten, Handlungsformel. Im Kern steht jeweils eine Frau, die gegen den eigenen Willen ins Kloster verbracht wird, um für Freigeistigkeit und Stolz bestraft zu werden oder für Verfehlungen der Familie zu büßen. Jedoch stellt sich das Leben hinter den Mauern als Vexierspiel zwischen nach außen vorgegebener Frömmigkeit und mehr oder weniger heimlich ausgelebten sexuellen Gelüsten heraus. Die zahlreichen Ausschweifungen sind nur mehr wiederum Anlass, Buße zu tun… Die ins pervertierte Klosterleben gezwungene junge Frau wird hilfloses Opfer von Kirchenoberen und verkommenen Oberinnen oder Äbtissinnen. Lustvoll spekulativ zelebrieren die Filme des Genres die dem wilden Treiben geschuldeten Schauwerte, was ihm den aus den Wörtern „Nun“ („Nonne“) und „Exploitation“ („Ausbeutung“) fusionierten Namen einbrachte…
Wie viele andere populäre italienische Genres waren auch die Nunsploitation-Filme von literarischen Vorbildern geprägt. Wiesen etwa die späten komischen Western in ihren grotesken Übertreibungen und parodistischen Zuspitzungen Gemeinsamkeiten mit der Comedia dell’arte, dem italienischen Volkslustspiel des 16. bis 18. Jahrhunderts auf, so finden sich im Nunsploitation-Genre Parallelen zu Giovanni Boccaccios überschwänglicher, von Pasolini im Rahmen einer erotischen Trilogie 1971 verfilmter, Novellensammlung „Decamerone“ oder den Romanen von Denis Diderot. Gerade der aufklärerische Gestus des französischen Philosophen durchtränkt das Genre bis ins Mark. Als prototypisch kann sein 1792 veröffentlichter Roman „La religieuse“ gelten, der die Leidensgeschichte der jungen Suzanne Simonin erzählt, die von ihren Eltern gezwungen wird, das Gelübde abzulegen. Der Grund ist ebenso simpel wie tragisch – Suzanne, in Rivettes klassischer Adaption dargestellt von Anna Karina, ist ein uneheliches Kind der Mutter, was eine ehrbare Verheiratung unmöglich macht. Diderot schildert den Befreiungskampf einer verzweifelten Frau, die in mehreren Klöstern mit frömmiger Scheinheiligkeit, Fanatismus und moralischer Verkommenheit konfrontiert wird und deren unbeugsamer Freiheitswille den Hass und Widerstand eines ganzen Systems provoziert. Die Grundlinien des Nunsploitation-Genres entstammen also der Aufklärung und sind bei Diderot allesamt bereits angelegt.
Das Motiv der unfreiwilligen, gedemütigten, unbeugsamen oder auch verräterischen Nonne durchzieht das europäische Kino der 1970er Jahre. Zu nennen sind hier unter anderem Jess Francos LES DÉMONS (DIE NONNEN VON CLICHY, 1973) und DIE LIEBESBRIEFE EINER PORTUGIESISCHEN NONNE (1977), Ken Russells THE DEVILS (DIE TEUFEL, 1971), Damiano Damianis IL SORRISO DEL GRANDE TENTATORE (VERBANNT, 1975), Sergio Griecos LE SCOMUNICATE DI SAN VALENTINO (DIE SÜNDIGEN NONNEN VON ST. VALENTIN, 1974) oder Bruno Matteis später Genrevertreter LA VERA STORIA DELLA MONACA DI MONZA (DAS SÜSSE LEBEN DER NONNE VON MONZA, 1981). Zentrales Schlüsselwerk des Genres allerdings ist Gianfranco Mingozzis FLAVIA, LA MONACA MUSULMANA (1974), in deutschen Kinos ehedem als CASTIGATA – DIE GEZÜCHTIGTE aufgeführt.
Dass der studierte Jurist und Regisseur Gianfranco Mingozzi seine Karriere als Regieassistent von Federico Fellini begann, ist durch die filigrane und im besten Sinne filmische Inszenierung zu spüren. Zudem ist der analysierend-sezierende Einfluss erkennbar, den Mingozzi durch seine zahlreichen Dokumentarfilme erworben hat. Der Regisseur, der auch am Drehbuch mitwirkte, siedelte die Geschichte im späten 15. Jahrhundert an. Historischer Hintergrund ist der Otranto-Feldzug, durch den das Osmanische Reich die italienische Apenninenhalbinsel unter seine Gewalt zu bringen versuchte. In jener Zeit der politischen und religiösen Wirren wird die junge Flavia Zeugin einer brutalen Hinrichtung. Ihr Vater, der Inquisitor Don Diego, lässt einen jungen Osmanen enthaupten. Das grausige Erlebnis hinterlässt Spuren auf der Seele Flavias, die sich von dem enthaupteten jungen Mann angezogen und abgestoßen fühlt. Bald darauf wird Flavia von ihrem Vater in ein Kloster gebracht, in dem sie miterleben muss, wie Frauen von Männern systematisch sexuell ausgebeutet und unterworfen werden. Zwar gelingt ihr die Flucht, während der sie auf den liebevollen Juden Abraham trifft; jedoch wird sie bald darauf wieder eingefangen, zur Bestrafung ausgepeitscht und brutal gedemütigt. Erneut wird sie ins Kloster gesteckt und alles deutet darauf hin, dass sie den Rest ihres Lebens hier verbringen wird. Das Schicksal aber führt ihr den Sarazenenfürsten Ahmed über den Weg, der sie an den enthaupteten jungen Muslim erinnert. Obwohl die Muslime mit unvorstellbarer Grausamkeit gegen die christliche Bevölkerung vorgehen, lässt sich Flavia auf ein erotisches Verhältnis mit dem Fürsten ein.
In den darauf folgenden Jahren wird Flavia zum negativen Gegenentwurf der strahlenden Jeanne d’Arc, zu einer Rebellin mit linkem Herzen und inbrünstig gelebten Überzeugungen. In ihrem Rausch lässt sie ihr altes Kloster niederbrennen, ihr Vater wird von Ahmeds Streitkräften getötet. Mit Hilfe des Sarazenenfürsten und seiner Armee entfesselt sie eine regelrechte Orgie der Gewalt und Rache. Dieser blindwütige Blutrausch endet erst, als sie erkennt, dass Ahmed den Philanthropen Abraham ermordet hat. Nach dem Sieg der Muslime kommt es zur Trennung von Ahmed. Flavia wird Zeugin, wie die Invasoren Frauen entführen. Ihre emanzipatorische Haltung wird in den Grundfesten erschüttert. Schlussendlich gerät sie in die Hände christlicher Streitkräfte, für ihre Sünden muss sie auf grauenvolle Weise büßen…
In gewisser Hinsicht steht die Leidens- und Lebensgeschichte Flavias damit ebenso in der Tradition Diderots wie der skeptizistischen Weltsicht seines Landsmannes Voltaire. Dessen 1759, zunächst anonym, erschienene, satirische Novelle „Candide ou l’optimisme“ ist eine beißende Kritik an kirchlichen Institutionen und ihrer Würdenträger, der Ausbeutung der Bevölkerung durch den Adel sowie kriegerischer Auseinandersetzungen in jedweder Form. Richtete sich Voltaire damit in überspitzter Form gegen die vom deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz beschworene bestmögliche aller Welten, so ist die in FLAVIA, LA MONACA MUSULMANA vorherrschende Weltsicht düsterer und um ein Vielfaches fatalistischer. Die Figur der Flavia steht für die moderne und aufgeklärte Frau, die sich gegen verkrustete patriarchale Systeme auflehnt. Ihre Beziehung zu Ahmed birgt gleich in doppelter Hinsicht Sprengkraft. Zum einen geht es um die freie Partnerwahl einer jungen Frau in einer Zeit der Unterdrückung und sexuellen Ausbeutung, zum anderen ist die Verbindung einer christlichen Nonne mit einem Muslim im Mittelalter ein unverhohlener Akt der Provokation, ja eine gesellschaftliche Entgleisung. Überhaupt ist die Religion, insbesondere die Schattenseite ausgeübter Religionspraxis, ein zentrales Thema in Mingozzis Film. Tatsächlich scheint Gotthold Ephraim Lessings Bühnenklassiker „Nathan der Weise“ erheblichen Einfluss auf das Drehbuch gehabt zu haben. Während allerdings Lessings humanistisches Drama einen vehementen Aufruf zu religiöser Toleranz darstellt, so hat Mingozzi eher eine Anti-Ringparabel inszeniert: Es gibt keine Versöhnung der Religionen und keine Vertrauensbasis zwischen Mann und Frau, selbst das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist zerbrochen.
Im Gegensatz zu anderen Vertretern des Nunsploitation-Genres wird hier eine Botschaft transportiert, die in ihrer Absolutheit einmalig ist. Frei nach Dante Alighieri sollte sich jeder Zuschauer, der sich an diesen Film heranwagt, im Klaren darüber sein, dass er besser alle Hoffnung fahren lässt. FLAVIA, LA MONACA MUSULMANA ist ein vergiftetes Geschenk der Filmgeschichte, ein streitbares Thesenwerk und eine Herausforderung an den wachen Geist. Das hohe inszenatorische und schauspielerische Niveau unterstreichen seine künstlerische Bedeutung nur umso mehr. Oftmals gesellschaftlich verfemt und künstlerisch herabgewürdigt, sind es gerade solche Werke mit streitbaren Ansichten, von denen das Kino lebt und die ob ihres zeitlosen Reibungspotentials immer aktuell bleiben werden.