Offene Wunde deutscher Film
Von Christopher Klaese
„In unserem wahren Systeme sammeln wir immer nur Wörter, Spielmarken und Medaillen ein, wie geizige Münzkabinetter – und erst spät setzen wir die Worte in Gefühle um, die Münzen in Genüsse.“
Irgendwann verschränkt sich in abstoßend-anziehender Weise wieder einmal der Ton mit dem Bild. Zu Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ fleddern Fetzen aus Zbyněk Brynychs ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN (1970) über die Leinwand. Ein anderes Mal flirrt der mit Stroboskopeffekten aufgepeppte Vorspann zu NEGRESCO**** (1968) vorbei, während Komponist Klaus Doldinger von seinem Blues-Erweckungserlebnis nach dem Krieg erzählt. Für ihren neuesten, in der Sektion Forum der diesjährigen Berlinale uraufgeführten Dokumentarfilm – eine direkte Fortsetzung zu VERFLUCHTE LIEBE DEUTSCHER FILM (2016) – graben sich die beiden Filmemacher Dominik Graf und Johannes F. Sievert noch einmal tief in die etwas andere Geschichte des deutschen Genrekinos ein.
Ekstatisches, ungebremstes Kino. Sinnlich und verschwenderisch. Schmerzhaft und voller Genuss. Energie verblasend, als habe man zuviel davon. Jenem Abseitigen, den Randnotizen, dem Nichtkanonisierten spürt der Film nach. Im Dickicht des Allgemeinen wird das Spezielle sichtbar gemacht und aneinandergereiht in Episoden, die man vielleicht schon längst vergessen hatte. Etwa, dass die junge Regisseurin May Spils mit ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN (1968) lange vor Doris Dörrie einen der größten Komödienerfolge des deutschen Films hinstellte. Oder wie Wolfgang Petersen DAS BOOT (1981) angeboten bekam, alles anders machte als die Amerikaner und erfolgreich den Traum vom Hollywood in Geiselgasteig am Leben hielt – der sich dann eben doch nicht so erfüllte, wie sich viele das erhofft hatten. Erzählt wird von Peter F. Bringmann, der sich mit Marius Müller-Westernhagen in die vorderste Reihe des Publikumskinos arbeitete, nur um kurz darauf mit seiner Produktionsfirma in der Pleite zu sitzen. Oder man hört dem Schauspieler Jürgen Goslar zu, der es als Regisseur mehr als einmal wissen wollte – was die Kritiker und Buchhalter stets mehr verärgerte, dem deutschen Kino aber Beiträge von singulärer Kraft und Drastik schenkte.
Graf und Sievert knabbern an den Rändern der deutschen Film- und Fernsehwelt, deren Werke das Unterbewusstsein des Zuschauers anpeilen. Kein Thesenkino für das Über-Ich, sondern Hiebe in die Magengrube des Zuschauers. Lebenswege, Drehungen und Wendungen in den Biografien werden sichtbar. Klaus Lemke und Wolfgang Büld, die sich vom finanzstarken Oberflächenfilm zurück ‚auf die Straße‘ arbeiteten, sind dabei. Achim Bornhak (AKIZ) und Niki Müllerschön, die sich, der Fremdheit ihrer Filmstoffe bewusst, den Weg über die Filmförderung sparten, Schuldenberge anhäuften, um nur das zu filmen, was sie filmen wollten. Den Komponisten Jürgen Knieper und Eberhard Schoener merkt man Dankbarkeit an, wenn sie von der Freiheit erzählen, die ihnen die Regisseure ließen. Aber auch die Tragik eines Carl Schenkel blitzt durch, dessen Karriere nach ABWÄRTS (1984) leider schon mit diesem Filmtitel beschrieben schien. Ein Wechselbad der Gefühle, ein Rotationsbild von Persönlichkeiten – und doch eint sie alle die hemmungslose Liebe zum Ungenierten, zum Menschlichen, zum Unkontrollierten.
„Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde.“
Die langen Schatten der Nazizeit, die sich in Kultur und Wesen der Deutschen eingruben und bis heute ihren Beitrag dazu leisten, dass unser Kino ist, wie es ist, tauchen ebenso wieder auf wie Grafs Beschäftigung mit dem Verhältnis zu seinem Vater – ein stetiges Momentum im dokumentarischen Schaffen des Regisseurs. Da erscheint Hans H. Königs archaischer ROSEN BLÜHEN AUF DEM HEIDEGRAB (1952), eine Mischung aus Anti-Heimatfilm und seelischem Trümmer-Noir, neben SUKKUBUS – DEN TEUFEL IM LEIB (1989), einem aberwitzigen Alterswerk des nebulösen Georg Tressler. Es geht um Städte wie München, wo jahrzehntelang DER KOMMISSAR (1969 – 1976) und DERRICK (1974 – 1998) den Reinecker’schen Kleindramen nachspähten und Müllerschöns kapitaler Flop HARMS (2013) seine besten Momente hatte. Die unverstellte Kontextualisierung besorgen Olaf Möller und Rainer Knepperges, diesmal unterstützt durch Lisa Gotto. Wer speziell Grafs essayistische Schriften und bisherigen Dokumentarfilme kennt, wird vieles von dem wieder erkennen, für das Graf seit Jahren im Akkord Lanzen bricht. Für ein unverbautes, zügelloses Kino tritt er ein – für „U-Boot-Filme“, wie er es nennt. Filme, die unter dem Radar laufen und doch den Menschen in seiner ganzen Natürlichkeit in den Blick nehmen.
Dass der Mensch, bei aller Ratio und allem Über-Ich, eben doch auch immer Blut & Schweiß, Sperma & Tränen ist und all das Unterbewusste, genau diese Menschlichkeit feiert OFFENE WUNDE DEUTSCHER FILM. Nicht als Gegenentwurf zum in Einspielergebnissen vermessenen Massenkino, sondern als ein trotzig-rühriges „So muss es auf der Leinwand auch sein – so darf es sein, so kann es sein“. Derart wird auch die Klippe des „Guter Film-Schlechter Film“ umschifft, denn es gibt eben nur den höchst individuellen Film als Ganzes. Und im Grunde sind Filmdokumentationen, nach deren Ende man am liebsten alle dort behandelten Filme auf der Stelle und sofort in voller Länge genießen möchte, ja immer noch die Herzlichsten.
Vom amerikanischen 60er-Jahre-Ansatz der Münchner Gruppe um Lemke über die dokumentarische Fernsehspiel-Zeit der 70er bis hin zum testosterongeschwängerten Männerfilm der 80er, inklusive eines Brückenschlags zum virilen Digitalfilm der 90er und den raren Tiefausläufern des Jetzt. Den beiden Dokumentaristen gelingt ein Film voller Brüche, die neue Kontinuitäten schaffen. Zum Teil fahrig und verspielt, dann wieder stringent und überlegt. Genauso wechselhaft, wie wir Menschen es eben sind. Lebende Menschen mit lebenden Filmen. Lebendige Filme – lebendige Menschen!
„… und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich!“
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Offene Wunde deutscher Film, D 2016/2017 | Regie: Dominik Graf, Johannes F. Sievert | Kamera: Hendrik A. Kley | Musik: Florian Van Volxem, Sven Rossenbach | mit: Wolfgang Büld, Roger Fritz, Dieter Geissler, Jürgen Goslar, Klaus Lemke, Wolfgang Petersen | Laufzeit: 116 Minuten