Panik im Jahre Null
Von Christopher Klaese
Ende der 1990er, in einer der vielen durchwachten Nachte vor dem Fernseher, verfolgte ich mit Spannung den avisiert von mir herausgepickten DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (1962), jene unterhaltsame und auf Action getrimmte Neuverfilmung aus der CCC-Filmfabrik von Atze Brauner, die bis heute nichts von ihrem kaltherzigen Charme der damals propagierten ‚Harten Welle‘ verloren hat. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen nach der dröhnenden Schlussfanfare Raimund Rosenbergers dann doch zu Bett zu gehen, doch weit nach Mitternacht begann nahtlos der nächste Film im Programm – und die mir unbekannten, fetzigen Big-Band-Klänge verbunden mit dem plakativen Titel des Streifens ließen mich wie gebannt weiter vor der Flimmerkiste verweilen. In Zeiten vor omnipräsentem Internet und kurzem Griff zum Smartphone sagte mit PANIK IM JAHRE NULL nichts, doch umso schöner, dass nun endlich eine mustergültige Veröffentlichung dieses Films auch hierzulande zum Wiederentdecken einlädt.
PANIK IM JAHRE NULL – kurioserweise im gleichen Jahr entstanden wie der eingangs erwähnte DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE – versteht sich als konsequenter Reißer mit klarem Bekenntnis zum Kommerz, doch der sehr reale Hintergrund, aus dem sich das Filmsujet speist, beweist, wie treffsicher man einer Nation anhand ihrer Genrefilme im übertragenen Sinne den Puls fühlen kann. Das legendäre Filmstudio American International Pictures (AIP), damals gerade mit opulenten Edgar Allan Poe-Adaptionen erfolgreich, lancierte PANIK IM JAHRE NULL als schmal budgetiertes Cash-In-Produkt für die Autokinos und Double Features, wohl nichtsahnend um den Kultstatus, den dieser Streifen noch erreichen sollte.
Familie Baldwin – klassisch amerikanisch mit Vater-Mutter-Tochter-Sohn ausstaffiert – will ins Wochenende, Angelausflug im Hinterland der amerikanischen Westküste. Doch schon kurz nach der Abfahrt ‚erstrahlt‘ der Himmel, helle Lichtblitze künden Ungemach. Als ein Atompilz über der Bucht von San Francisco aufsteigt, ist die Familie im Bilde: der oft befürchtete atomare Erstschlag hat stattgefunden, die Weltordnung ist sozusagen auf Werkseinstellungen zurückgesetzt, die Zeitrechnung beginnt bei Null. Vater Baldwin, Familienoberhaupt und kühler Kopf, beschließt für sich, bei allem Zusammenbruch nunmehr redlich zu bleiben – doch je länger die Familie versucht, sich in Bedrängnis von Plünderungen, marodierenden Jugendlichen und den rotierenden Schreckensmeldungen des Radios schadlos zu halten, desto stärker wird der Kampf ums Überleben zur einzig gültigen Prämisse. Die Welt steht am Abgrund, Familie Baldwin scheint schon einen Schritt weiter.
Im an Perlen nicht armen AIP-Kosmos nimmt PANIK IM JAHRE NULL eine Sonderstellung ein, denn kaum ein Streifen aus der Filmschmiede geht derart an die Wurzel der Befindlichkeit seines damaligen Publikums. Sensibilisiert durch die Schulungsfilme des Innenministeriums wie sich im Fall eines Atombombenangriffs zu verhalten sei, destabilisiert durch die krachend verlorene Invasion in der kubanischen Schweinbucht einige Jahre zuvor, nur notdürftig zusammengehalten vom Kitt der gesellschaftlich und religiös motivierten Wagenburgmentalität gegen die kommunistische Bedrohung – so standen viele ‚Familien Baldwin‘ damals da. Auch das Filmskript spart dank der ungenannten Romanvorlage nicht mit biblischen Bildern und Bezügen.
Während Hollywood (SUNSET BOULEVARD) versuchte, durch feingeistig-humorvolle Henry Koster-Klassiker wie MR. HOBBS MACHT FERIEN (1962) mit ‚Durchschnittamerikaner par excellence‘ James Stewart Staat zu machen, legte Hollywood (Hinterausgang) mit PANIK IM JAHRE NULL den Zuschauern die Daumenschrauben an und offenbarte die dunkle Seite der Gesellschaft. Ray Milland, Oscarpreisträger und Altstar bei AIP, liefert den konsequenten Gegenentwurf zum gütigen Jimmy Stewart, gibt nach und nach dem alttestamentarischen Affen Zucker – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sein Harry Baldwin ist bewusst kein Prepper heutiger Prägung, eher ein durch die Situation auf seine Urinstinkte reduzierter Westmann, der zur Rettung der Familie den Peacemaker durchlädt – das selbstreinigende Tischgebet am Abend verschafft den notwendigen Ausgleich.
Nicht nur im übertragenen Sinne bricht die Familie alle Brücken hinter sich ab, ein konsequentes „We first!“ ist das Gebot der Stunde. Milland, der neben der Hauptrolle auch die Regie übernahm, arbeitet als Spielleiter ökonomisch, handwerklich sauber. Dass der Film nie Zeit verliert, schon zu Beginn gleich ‚In medias res‘ geht und immer Tempo macht, unterstreicht den Unterhaltungscharakter. Denn bei aller Postapokalyptik will PANIK IM JAHRE NULL ein Thrillerdrama sein und bleiben, von philosophischen Gedanken eines intimen A-List-Reißers wie DAS LETZTE UFER hält sich Milland fern. Die Welt am Morgen nach dem Atomkrieg ist Motivation genug, um die dünne Firnis der Mitmenschlichkeit bröckeln zu lassen. Wo andernorts Schmusesänger Fabian den smarten Schwiegersohn in spe mimt, erweist sich PANIK IM JAHRE NULL für den mit ähnlicher Vita ausgestatteten Filmsohn Frankie Avalon als coming-of-age im Schnelldurchlauf, vom gelangweilten Schulbub zum geübten Gewehrschützen in kurzen Lektionen.
AIP geben sich mit einem abgezirkelten Survivalthriller als frühe Wegbereiter des New Hollywood, das aus den Studios raus ‚on location‘ ging. Nicht nur das Bild, auch die Musik ist Cinemascope: Les Baxter, damals quasi ‚The Bernard Hermann of AIP‘, drückt hier aufs Tempo und verpasst dem Drama einen temporeichen Jazzscore, der viel Musik auffährt, ohne Streicher auskommt und fetzig-swingenden Crimesound kredenzt. Dass Baxter dann und wann einen etwas zu dicken Pinsel bemüht, mag verschmerzbar sein angesichts der Tatsache, dass ihm mit Trompeter Conte Candoli, Posaunist Harry Betts sowie den Gitarristen Tommy Tedesco und Bill Pitman die profiliertesten und meistgebuchten Jazzmusiker im Studiobetrieb Hollywoods zur Verfügung standen.
PANIK IM JAHRE NULL erschien als deutschsprachige HD-Erstauswertung im Rahmen der „Fluch der Galerie des Grauens“-Reihe. Das schwarzweiße Breitwandbild erstrahlt in perfekter Abtastung und scharfer Brillianz, kein Vergleich mehr zu meiner alten Fernsehfassung von anno dazumal. Neben der deutschen Synchronisation, die für die TV-Erstausstrahlung entstand, ist der englische Originalton enthalten. Bei den Extras sticht ein kenntnisreicher Audiokommentar mit Bodo Traber und Matthias Künnecke hervor, die in angenehm unaufgeregter Art mit ihrem umfänglichen Fachwissen rund um Weltuntergangsfilme und deren literarische Vorlagen wuchern. Die Featurette ATOMIC SHOCK! präsentiert Kultregisseur Joe Dante, der sich als euphorischer Fan des Streifens entpuppt, während weitere Zugaben wie US-Kinotrailer, das dänische Filmprogramm und eine umfangreiche Bildergalerie das Vergnügen abrunden. Eine DVD-Version ist ebenso wie ein vierundzwanzigseitiges Booklet von Dr. Rolf Giesen ebenfalls enthalten.
Die allgegenwärtige Bedrohung des atomaren Erstschlags scheint heute vorerst gebannt – das immerwährende Risiko des durch Extremsituationen zum Ausbruch kommenden, inneren Tiers in einem jeden von uns ist hingegen aktuell wie eh und je. Doch dank PANIK IM JAHRE NULL können wir schon jetzt Fallstudien betreiben und für das Eigene die Lehren ziehen, die uns vor größerem Ungemach bewahren. Dank dieser Veröffentlichung muss für PANIK IM JAHRE NULL nun niemand mehr notgedrungen bis spät in die Nacht aufbleiben – Familie Baldwin sollte mit ihrem Wohnwagen in jedermanns Filmsammlung einen Parkplatz finden.
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Panic in Year Zero! | USA 1962 | Regie: Ray Milland | Darsteller: Ray Milland, Jean Hagen, Frankie Avalon, Mary Mitchel, Joan Freeman, Richard Bakalyan u.a.
Anbieter: Anolis Entertainment
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