Am Abend des folgenden Tages

Am Abend des folgenden Tages

Von Gerd Naumann

Hubert Cornfields nahezu vergessenes Thrillerkleinod AM ABEND DES FOLGENDEN TAGES (1968), im Original THE NIGHT OF THE FOLLOWING DAY, ist die Adaption einer Romanvorlage des amerikanischen Kriminalschriftstellers Lionel White. Dessen Geschichten inspirierten zahlreiche Filmschaffende, so etwa Stanley Kubrick oder Jean-Luc Godard. Regisseur Cornfield wiederum erzählt mit seiner Verfilmung von Whites THE SNATCHERS eine eigenwillige Entführungsgeschichte. Eine Gruppe Gangster, darunter ein Liebespaar, der Bruder der Freundin und ein ambivalenter Gewaltverbrecher, entführen die Tochter eines wohlhabenden Vaters. Diese wird in ein abgelegen liegendes Haus am Dünenstrand verfrachtet. Allmählich kristallisieren sich Spannungen innerhalb der Gruppe heraus und es hat mehr und mehr den Anschein, dass es in der Gruppe unterschiedliche Interessen gibt. Ist der perfekt geplante Coup zum Scheitern verurteilt?

am.abend.des.folgenden.tages.1968.coverAM ABEND DES FOLGENDEN TAGES weist zahlreiche film- und kulturgeschichtliche Reverenzen auf. Da ist unter anderem die kühle, visuell dennoch berauschende Kameraführung von Willy Kurant, der zur Entstehungszeit unter anderem bereits für Orson Welles und Jean-Luc Godard arbeitete. Teilweise auftretende Bildunschärfen geben der Geschichte nur noch mehr einen rauen und realistischen Anstrich. Die nebelige französische Küstenlandschaft mit dem einsamen Haus erinnert in ihrer Abgeschiedenheit und dem zärtlichen Wiegen des Dünengrases an René Clairs Verfilmung des Christie-Stoffs AND THEN THERE WERE NONE (1945). Cornfield und Kurant entscheiden sich für eine statische Bildgestaltung, die Kamera fokussiert sich umso mehr auf das Spiel der Darsteller. Und hier geschieht etwas magisches, was vor allem durch das Spiel Brandos und Richard Boones bedingt ist. Während Boone den durchtriebenen Charakter des Berufskriminellen Leer durch wohl überlegtes Mimenspiel seiner Kraterlandschaft, die sich Gesicht nennt, Plastizität verleiht, sprengt Brando förmlich die Leinwand. Im Gedächtnis haften bleibt so unter anderem eine Szene, in der sich der erregte Brando mit dem Bruder seiner Freundin in die Dünen begibt. Während wir im Hintergrund das ruhige Meer und einen milde über die Gräser wehenden Wind erleben, dominiert Brando im Vordergrund das Geschehen. Hochgradig erregt und energiegeladen steht er da, gibt einen Eindruck vom Widerstreit menschlicher Emotionen und Naturgewalt. Was für ein Gegensatz!

In verschiedenen Kritiken wird die Figurenkonstellation als reine Versuchsanordnung beschrieben. Das ist insofern nachzuvollziehen, als die Figuren auf eigenwillige Weise mit den Filmräumen in Verbindung zu stehen scheinen. Die Darsteller agieren nicht aus dem Spiel heraus, sie agieren mit dem Raum und zeigen somit die Grenzen filmischer Inszenierung von Körperlichkeit und Drehort auf. Daher ist nachvollziehbar, dass es zwischen dem Method Actor Brando und Regisseur Cornfield zu Spannungen kam. Bemerkenswert ist immer wieder, wie Brando aus dem starren Korsett der Inszenierung auszubrechen versucht, wenn er etwa Flaschen umstürzt, nur um sie wieder aufzurichten. Den Charakter einer Versuchsanordnung unterstreichen ebenfalls die Figurenzeichnungen, denn diese stehen jeweils prototypisch für menschliche Todsünden. Die Charaktere verkörpern Hochmut, Zorn, Wollust, Völlerei und Neid. Eine Lesart im Sinne des Katechismus lässt der Film jedoch nicht zu, vielmehr agieren die Personen losgelöst von moralisch-religiösen Fragestellungen. Selbst der Dorfpolizist hat keine Hemmungen, eine vorgebliche verheiratete Frau zu hofieren. Der einzige peripher nach moralischen Maßstäben handelnde Charakter ist der von Brando verkörperte Entführer.

Die Inszenierung der Darsteller und ihre Beziehungen zueinander tragen zu einer bemerkenswerten Dichte bei, der leider durch das Ende ein wenig die Brisanz genommen wird. Dennoch ist AM ABEND DES FOLGENDEN TAGES ein hochspannender und einprägsamer 1960er-Jahre-Thriller in ansprechender Inszenierung, mit hervorragenden darstellerischen Leistungen und einer treibenden Filmmusik von Stanley Myers. Die limitierte DVD-Edition in der Cine Selection von filmArt ist unbedingt zu empfehlen, denn sie bietet den selten gezeigten Film in ansprechender Qualität. Dem Mediabook liegt ein filmhistorischer Essay von Marcus Stiglegger bei, der den Film unter anderem im Fokus zeitgenössischer Entführungsthriller verortet.

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The Night of the Following Day, GB/USA 1968, Regie: Hubert Cornfield, Mit: Marlon Brando, Richard Boone, Rita Moreno, Pamela Franklin, Jess Hahn, Jacques Marin, Al Lettieri u.a.

Anbieter: filmArt