NIFFF 2023: Vincent doit mourir

NIFFF 2023: Vincent doit mourir

Von Michael Kathe

Was sich am Anfang wie eine schwarze Komödie liest, entwickelt sich im Verlauf des Films zu einer Art existenziellem Zombiefilm. Oder so. Jedenfalls zeigt Regisseur Stéphan Castang in seinem ersten Langfilm mit einer cleveren Metapher, wie die Welt um uns immer mehr in Hass umschlägt.

Jeder kennt das Gefühl, dass fremde Menschen einen einfach ins Visier nehmen, abschätzig anschauen und möglicherweise aggressiv werden. Nur weil man sie ansieht. Bei Vincent (Karim Leklou) realisiert sich diese Angst. Zuerst noch halb motiviert. Ein Witz zu einem Praktikanten in der Firma führt dazu, dass der Prakti ihm einen Laptop auf die Birne knallt. Weiter unverhältnismäßige Reaktionen, selbst ohne sichtbaren Anlass, folgen. Vincent wird beinahe überfahren, von Kindern angefallen, kriegt fast eine Tasse als Wurfgeschoss übergezogen, usw… Als Höhepunkt darf ein Zweikampf in Kacke gelten, der hat‘s in sich. Die Angriffe werden immer brutaler, so dass Vincent sich zurückzieht ins Landhaus seines Vaters und auf der Reise dorthin mit der Subkultur der Angegriffenen in Kontakt kommt. Ein alter Professor mahnt ihn an, einen Hund zu kaufen, weil Hunde die Gefahr realisieren, und sich auf einer geheimnisvollen Website („Sentinel“) weiter zu informieren. Um das Leben in Einsamkeit werde er nicht herumkommen. Und merke: Niemandem direkt in die Augen blicken.

Zu den Vorgaben, sich für die Sentinel-Page anzumelden, gehört: Alle Social-Media-Accounts löschen. Und dann in die Bubble einsteigen. Genau das ist auch der Anknüpfungspunkt für Castangs Film: Die unsichtbare Hassentwicklung unter Mitmenschen kann als Metapher auch als die Hassentwicklung durch den „unsichtbaren“ Verbreiter, die Sozialen Medien, gesehen werden. Da Castang uns keine anderen Hinweise liefert, ist das der naheliegendste: Menschen werden infiziert und brutalisiert durch das permanente Aufschaukeln und Heissmachen von Themen und die permanente Hetze im Netz.

Auch als Verteidiger rüstet Vincent in der Folge auf, bestellt sich Taser und andere Hilfsmittel. Er lernt auf schrullige Art die Kellnerin Margeaux (Vimala Pons) kennen, mit der sich die bestellten Handschellen perfekt zur Absicherung verwenden lassen, dass sie während des Liebesspiels nicht auf ihn losgeht. Bis ins Privateste hinein entwickelt sich nun die Furcht vor anderen Menschen. Und weitet sich ebenso auf die gesamte Gesellschaft aus. Let the Zombiefilm begin.

Die Hasszombies veranstalten ein Chaos auf den Straßen à la Godards WEEKEND. Das Land erklärt den Notstand – was in Frankereich mit den Gelbwesten und anderen sozialen Bewegungen natürlich ein äußerst glaubwürdiges Terrain vorfindet. Doch es geht in Castangs Erstling nicht nur um Frankreich, es geht um unser aller Beziehung zu Mitmenschen und der stummen Hassmacht. VINCENT MUST DIE macht das nicht nur schön metaphorisch, sondern mit tollem Gespür für Dramaturgie und Spannung, für Grauen, Schock und Comedy. Der Film ist eine Art Edgar-Wright-Film in Höchstform.

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Vincent doit mourir, Frankreich/Belgien 2023 | Regie: Stéphan Castang | Drehbuch: Mathieu Naert | Kamera: Manuel Dacosse | Darsteller: Karim Leklou, Vimala Pons, François Chattot, Karloine Rose Sun, Emmanuel Vérité u.a. | Laufzeit:115 min.

Der Film lief am Neuchâtel International Fantasy Film Festival 2023