Lost Highway

Lost Highway

Von Adrian Gmelch

25 Jahre ist es nun schon her, dass LOST HIGHWAY (1997) von David Lynch die Zuschauer in den Kinosälen angsterfüllt und ratlos zurückgelassen hat. Ein guter Anlass, den Film noch einmal aus heutiger Sicht zu betrachten. Und wenn Lynchs filmische Reise in die Psyche eines Mörders einfach eine moderne, visuell-surreale, Musik kodierte Variante von Goethes „Faust“ wäre? Eine Betrachtung.

Die psychogene Fugue eines Mörders

Im Pressedossier zum Film 1997 waren als Beschreibung von LOST HIGHWAY einfach zwei Worte aufs Papier gedruckt: Lynchs Werk sei der Ausdruck einer „psychogenen Fugue“. Diese Worte nahm dann auch Lynch selbst bei Interviews in den Mund, ohne sie wirklich näher zu erklären, z. B. bei einem Gespräch mit Stephen Pizzello (American Cinematographer, März 1997). Was aber versteckt sich hinter dem Begriff „psychogene Fugue“? Er bezeichnet eine reversible Amnesie der eigenen persönlichen Identität, die Tage oder Monate dauern kann und in der Regel mit ungeplanten Reisen oder Wanderungen einhergeht. Sie kann auch von der Etablierung einer neuen Identität begleitet werden. Das scheint auf den ersten Blick sehr gut zu LOST HIGHWAY zu passen: Fred Madison (Bill Pullman) gerät nach dem Mord an seiner Frau Renée (Patricia Arquette) in eine derartige Fugue, verliert vorübergehend seine Identität, reist an einen anderen, parallelen Ort, wo er in seiner neuen Identität als der jüngere Pete Dayton (Balthazar Getty) agiert. Als die Fugue plötzlich endet, wandelt er sich in Fred zurück. Doch ganz so einfach ist es nicht, wie wir bei Filmen von David Lynch wissen.

Eine weitere Erklärung zum Film, die bei Lynch während diverser Gespräche immer wieder aufkam, war der Fall O. J. Simpson, der 1994 für Aufmerksamkeit in den USA gesorgt hatte. Der ehemalige Football-Spieler war wegen des Mordes an seiner Ex-Frau Nicole Brown Simpson und deren Bekannten Ronald Goldman angeklagt worden. Der mediale Prozess ein Jahr später hinterließ wohl auch bei Lynch Spuren. Und in der Tat kann LOST HIGHWAY eben auch als eine Mördergeschichte gesehen werden, als eine seelische Betrachtung eines Mörders – Fred tötet seine Frau und flüchtet sich danach in eine Scheinrealität. Wie Lynch aber bisher mit seinen Filmen immer wieder bewiesen hat, sind diese weit mehr als deren Interpretationen und Deutungen. Wer versucht, einen Film von David Lynch rational zu erklären, stößt sehr schnell an Grenzen: „Irgendetwas passt immer irgendwie nicht – egal wie man es auch dreht und wendet!“

Ein visuelles und akustisches Faust-Mysterium

Bei Lynch sind mindestens zwei Dinge wichtiger als die zu erzählende Geschichte und der dazugehörige Dialog: die Bilder und die Tonspur. Dadurch alleine schafft Lynch ungeheuer atmosphärische Bildwelten, die den Schlüssel zum Verständnis des Films bereits in sich enthalten. Ein weiteres Merkmal Lynchs, das man bei LOST HIGHWAY im Hinterkopf haben sollte: Der Filmemacher liebt es, fragmentierte Persönlichkeiten darzustellen. Dies schafft er, indem er die Filme selbst stark fragmentiert – und damit auch die Wahrnehmung und Erfahrung des Zuschauers.

Die erste Phase des Films, in der der Zuschauer dem Leben von Fred und Renée folgt, das zunehmend aus den Fugen gerät, ist von roten und dunklen Tönen dominiert. Die erste halbe Stunde des Films besteht quasi aus in Rot getränkten Bildern: Renées rotes Kleid, rote Vorhänge (TWIN PEAKS lässt grüßen), rote Blumen, roter Mercedes, rote Lichter usw. Bis diese Farben in einem Gewaltrausch kulminieren – Freds Mord an seiner Frau – und dieser mit einer einzigen in Blut getauchten Aufnahme dargestellt wird, in der Fred auch noch demonstrativ in die Kamera blickt. Das omnipräsente Rot kündigt das bevorstehende Blutbad an. Parallel dazu herrscht oft eine bedrückende Finsternis in den Bildern des Stammkameramanns von Lynch, Peter Deming. Bezeichnend dafür ist die Szene, als Fred zuhause einen langen, dunklen Gang entlang geht und von diesem regelrecht verschluckt wird. Es folgt eine lange Schwarzblende. Die Dunkelheit hat Fred aufgenommen. Die Sequenz findet kurz vor dem Mord statt.

Das Farbenspiel aus Rot und Schwarz verdeutlicht auch das Eintreten des bleichweiß geschminkten Mystery Mans (Robert Blake) in das Leben von Fred. Wie er selbst sagt: „Sie haben mich eingeladen. Es ist nicht meine Art, dort hinzugehen, wo ich nicht erwünscht bin.“ Im Grunde wird hier LOST HIGHWAY zu einer modernen Variante von Goethes „Faust“: Fred, eifersüchtig, unbefriedigt und von Wahnvorstellungen geprägt, lässt den Teufel in sein Haus und schließt mit ihm schweigend einen Pakt, bei dem er ihm seine Seele überlässt. Der Teufel verhilft ihm dafür zum Mord an seiner Frau.

Der Mystery Man ist also eine Art moderner Mephistopheles, er steht für Freds Eifersucht, ist quasi die Verkörperung, die Personifizierung dieser Emotion. Lynch nimmt gerne einmal „reale“ Menschen, um sie als Verkörperung einer Emotion, eines Gefühls zu verwenden. Die weitere Handlung könnte wie folgt erklärt werden: Nach dem Mord von Schuldgefühlen geplagt, bleibt Fred nun als einzige Möglichkeit aus dem Teufelspakt zu entkommen, ein Szenario zu entwerfen, indem er die gute Rolle übernimmt und gegenteilig handelt. Diesmal tötet er nicht seine Frau, sondern Mr. Eddy alias Dick („Schwanz“) Laurent, mit dem seine Frau ihn notgedrungen betrügt …

Neben dieser visuellen Deutung liefert auch die Musik dem Zuschauer einige Interpretationsansätze. Ein paar Beispiele: Das Musikstück I’m Deranged von David Bowie am Anfang und am Ende deutet daraufhin, dass es für Fred kein Entkommen gibt. Die Jazz-Musik, die Pete in der Autowerkstatt hört, ist dieselbe, die Fred am Anfang des Films gespielt hat; hier holt Pete also seine Vergangenheit ein, welche er eigentlich vergessen möchte. Die Musikstücke werden in Freds Wunschvorstellung als Pete mit der Zeit immer wilder, man gelangt von der ruhigeren Musik von Lou Reed (This Magic Moment) zu den brutalen Songs von Marilyn Manson (Apple of Sodom & I Put a Spell on You) und Rammstein (Rammstein & Heirate Mich), hier gerät Freds Phantasie ins Wanken und sie wird eben von seiner brutalen Vergangenheit eingeholt, bis er sich durch die bösen Elemente gezwungen, zurückverwandelt, aber weiterhin krampfhaft an der Phantasie festhält. Dies erklärt, wieso Fred sich am Ende nicht wieder in der Zelle befindet, sondern immer noch in dieser Übergangswelt seiner Wünsche. Wenn dann wieder I’m Deranged ertönt, schließt sich der Kreis des Films – Fred ist nun in seiner eigenen Phantasie gefangen, es gibt kein Entrinnen mehr. Er hat es zwar geschafft, seinem Schicksal zu entkommen, ist dafür aber in seiner ganz eigenen Hölle angekommen.

David Lynchs LOST HIGHWAY hat auch 25 Jahre nach dem Erscheinen nichts an Kraft und Faszination verloren. Der Film lebt im Unterbewusstsein aller Filmbegeisterten weiter – nicht zuletzt aufgrund des verstörenden modernen Mephistopheles – und jeder versucht, ihm einen ganz eigenen Sinn zu geben.

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Lost Highway, USA/Frankreich 1997 | Regie: David Lynch | Drehbuch: David Lynch, Barry Gifford | Kamera: Peter Deming | Musik: Trent Reznor, Angelo Badalamenti u.a. | Darsteller: Bill Pullman, Patricia Arquette, Robert Blake, Balthazar Getty, Richard Pryor, Jack Nance, Robert Loggia u. a. | Laufzeit: 135 Min.