Wild in Blue

Wild in Blue

Von Christopher Klaese

Eine fett-bratzige Tieffrequenztonfolge eröffnet WILD IN BLUE; monoton und unnachgiebig windet sich der Klang in die Ohren des Zuschauers. Wahrscheinlich ist es derselbe düstere Klang, den der Protagonist des Filmes – Charlie (Frank Cermak) – in seinem Kopf wahrnimmt. Drückend wie Kopfschmerz dröhnt es auf ihn ein. Dazu das Flimmern eines Bildschirmes im Hintergrund, zum akustischen Traktat tritt die Visualisierung hinzu. Alles vorhanden, was einem das Leben zur Hölle machen kann. Ein letzter Ausweg bleibt – der Griff zur Waffe. Den Finger am Abzug und: Schluss – Aus – Ende!

Cover-WILD„Glaubst Du, dass Du in den Himmel kommst, Charlie? – Dann müsste ich zuerst an Gott glauben!“ Charlie beichtet! Charlie hat viel zu beichten. Denn er lebt in unserer Zeit, von der er glaubt, dass sie nur bewältigt werden könne, wenn man zwischen der geringeren zweier Sünden wählt. Das Gute existiert für ihn nicht mehr. Er macht sich selbst zum Rächer seines Hasses, wird vom Voyeur zum Akteur. Er überfällt Frauen, erniedrigt sie, tötet sie – und hält alles auf Film fest. Zusammen mit seinem Seelenverwandten Ben (Marcos Ochoa) fährt er den Damen ins Getreide – bis er Ashley (Charlotte Price) trifft. Und bei ihr ahnt Charlie etwas, das es in seiner Welt nie gab und geben wird: Liebe!

Bemerkenswert ist es allemal, was Regisseur und Drehbuchautor Matthew Berkowitz hier abliefert: eine Spielart des ‚Driller‘ (Drama-Thriller) ist es, was WILD IN BLUE besonders macht. Charlies Trauma seit Kindertagen ist das Elternhaus – Missbrauch, Lie-besentzug, Gewalt. Die Mutter, die eben noch Geburtstagstorten mit Kerzen versah, wird zur Furie und ergeht sich in geifernder Anfeuerung, wenn der Vater seinen Sohn wieder einmal vertrimmen soll. Mit diesem Erbe ist Charlie durchs Leben gegangen und er konserviert das Leid der von ihm gepeinigten Frauen auf Zelluloid – um seine inneren Triebe zu beruhigen, den fleischeslüsternen Dämonen Menschenopfer darzubringen, seinen Wunsch nach Macht zu befeuern.

WILD-01Hier keine Inspiration aus PEEPING TOM (1960) abzuleiten, wäre vermessen; denn daran denkt man unwillkürlich. AUGEN DER ANGST, jenes Meisterwerk von Psychothriller, dass damals nicht nur Karlheinz Böhms Karriere unter sich begrub, sondern in einer Art guter Nachrede erst Jahrzehnte später vom Katzentisch weg auf jenen Ehrenplatz der Filmgeschichte geführt wurde, an den es schon immer gehörte. Natürlich kann WILD IN BLUE weitergehen und sich auf andere Ingredienzen stützen, doch der Motivator der Gefühlkälte Charlies ist im Grunde ein und derselbe. Da ist es auch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der Film manchmal etwas zu viel verspricht, was er speziell in der Charakterisierung seiner Figuren schuldig bleibt. Oder ist es gar so, dass er bestimmte Erklärungen vorsätzlich auslässt? Stellen auch wir nicht manchmal Erklärendes bewusst hintan? Vielleicht, weil wir erst im Prozess des Erklärens erkennen, was wir tun?

Ständige Wechselbäder verordnet uns auch die facettenreiche Kameraführung von Wim Vanswijgenhoven: zerdehnt-lange Einstellungen, dann wieder hektische ‚Dokumentaraufnahmen‘ – dazwischen VHS-Bänder mit all den Macken und Schwächen, die deren Nutzer leidensfähig machten; Bandfehler, Geflacker, Laufstreifen, Ruckler. Oft springt der Film in den Zeitebenen bruchlos umher, vom Einst ins Hier – und meistens ist es Charlies ‚point-of-view‘, den auch die Zuschauer sehen.

WILD-04Aus dem Land, das uns die VHS groß werden ließ, stammen im Grunde alle Misshandlungen, die Charlie je erfahren hat. Und somit allegorisiert WILD IN BLUE schon im Titel auch den überkommenen amerikanischen Traum. WILD im BLUE der amerikanischen Nationalflagge. Bei Charlies Vater hängt sie noch immer über dem Sofa – während er über alte Schallplattenfirmen sinniert, legt sich das „Star-Spangled Banner“ wie ein Leichentuch auf die Szenerie. An die Stelle der Sterne auf blauem Grund treten tote Frauenleiber auf blutrot gefärbten Laken. Hier haben die Geister des Unguten endgültig platzgegriffen – das Land bietet auch dem Bösen unbegrenzte Möglichkeiten. In einer hermetisch abgeschlossenen Gesellschaft sprießt Verderbtheit ohne Kenntnis anderer.

Die Bildqualität zu beurteilen fällt bei diesem mit sehr unterschiedlichen Filmmaterialien spielenden Elaborat nicht ganz leicht. Schärfe und Schwarzwert zeigen sich jedoch auf hohem Niveau. Auf der tonlichen Ebene wurde dem Film eine gelungene Synchronisation zuteil, die sich allerdings gegenüber dem raumklingenden 5.1 der Originalsprachversion mit einer simplen Stereoaufschlüsselung in 2.0 etwas dünn ausnimmt. Neben einigen Trailern zu anderen Veröffentlichungen aus dem auch sonst sehr zu empfehlenden Verlagsprogramm des Anbieters, finden sich allerdings lediglich der deutsche und englische Trailer in der Bonussektion. Für die Freigabekennzeichnungsnegierer sei angemerkt, dass ein Wendecover natürlich obligat ist.

WILD-02Momente, die Glück erahnen lassen, sind rar bei WILD IN BLUE. Wenn Charlies Handkamera im Stile alter Super 8-Aufnahmen der wundervolle und doch verdorbene Ashley durch eine sonnendurchflutete Großstadt begleitet, dann verstehen wir, warum Charlie so fühlen muss wie er fühlt. Doch es sind nur Schlaglichter, der Rest ist Rache und Hass. Ein letzter Ausweg bleibt – der Griff zur Waffe. Den Finger am Abzug und: Schluss – Aus – Ende! Oder gibt es doch einen Ausweg – eine ‚Last Exit to Brooklyn‘ für Charlie und für uns?

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Wild in Blue, US 2014, R: Matthew Berkowitz, D: Frank Cermak Jr., Charlotte Ellen Price, Steve Railsback, Karen Black, Daveigh Chase, Marcos Mateo Ochoa

Anbieter: Donau Film