L'Chaim – Auf das Leben!

L’Chaim – Auf das Leben!

Von Christopher Klaese

Das Leben will … gelebt werden. Nichts nutzt es, aus seinem Leben nichts gemacht, Chancen verpasst zu haben. Während viele von uns leben, als ob wir noch ein zweites Leben in petto hätten, lebt Chaim Lubelski sein Leben von Tag zu Tag. Aber nicht auf Kosten anderer, sondern für andere. „Meine Mutter ist mein Leben“ sagt er einmal in diesem wunderbaren Film; und es ist sein Leben, seine Persönlichkeit, seine Liebe zum Leben, an der uns L’CHAIM teilhaben lässt.

LChaim_PosterChaim Lubelski hat ein wildes Leben gelebt. Ob er sich nun als Herumtreiber, Dealer, Hippie und Freiheitskämpfer von Deutschland über Paris und London nach Afghanistan treiben ließ, als erfolgreicher Geschäftsmann in New York mit exportierten Levis-Jeans ein Vermögen machte, es mit Aktiengeschäften rund um den ‚Neuen Markt‘ wieder verlor oder als professioneller Schachspieler die Côte d’Azur rauf- und runterspielt. Als seine Mutter Nechuma schwer erkrankt, krempelt er sein Leben um – und ist für Sie da. Er zieht zu ihr, mit 64 Jahren zurück zu der Frau, die ihn einst erzog ein guter Sohn zu sein. Aufopferungsvoll kümmert er sich um sie, singt ihre Lieder, hört ihre Geschichte und erlebt quasi nebenbei was es bedeutet, ein lebendiger, lebensbejahender Mensch zu sein.

So chronologisch wie es bis hierher klingen mag läuft das Leben mitunter nicht. Warum sollte es also L’CHAIM sein. Fragmentarisch reihen sich Erlebnisse aneinander und wie spontan aufblitzende Gedanken gliedern sich Erzählungen und Begebenheiten an einer Perlenschnur der schlaglichtartigen Schwerpunkte. Verbunden mit Archivaufnahmen und privaten Bildern ergibt sich nicht nur ein Familienbild der ‚Übriggebliebenen‘, es ist eine Demonstration für ein ganzes, versprengtes, stolzes, gläubiges Volk, dass gelernt hat, sich dem Schicksal nicht zu ergeben. Immanent ist der Holocaust, das Grauen, das Erlebte darum – bei Chaims Mutter mehr als bei ihm – und dass es bis heute unmöglich ist, dass zu vergessen, was war. Darf es auch nicht. Wenn Sie plötzlich die Bilder von der Deportation, dem Zerstreuen der Familie, dem Tod der Eltern wieder wachruft und uns als Zuschauern entgegen wehklagt, dann wird man nachdenklich über die Vergangenheit – und sollte seine Lehre ziehen für die Zukunft.

Chaim, ein Mann, der viel Geld verdiente, es ausgab, verspielte, investierte – und aus einer großen Bedürfnislosigkeit heraus sein Leben lebt. Nur das Rauchen kann er nicht lassen, sehr zum Leidwesen seiner Mutter. Aber er braucht das. Rauchen bewirkt Indifferenz, um ihm die Gesellschaft erträglich zu machen. Chaim kann das ’superficial‘ der Menschen nicht ausstehen, die Oberflächlichkeit. Dass er selbst keine innere Ruhe hat, verzeiht man ihm als Zuschauer nur zu gerne; erzählt er doch in sympathischer und kundiger Art, wie ein weiser Alter die Geschichten von der Vergangenheit in fesselnder Manier berichtet. Man sieht sich förmlich im Kreis sitzen um den weltgewandten Mann mit der Armeemütze und dem grauen Bart, wie er seine Lieder singt, zwischen deutsch, englisch, französisch, jiddisch und hebräisch blitzschnell wechselnd. Man muss als jüngerer Mensch schon Kondition haben, um mit Chaim schritthalten zu können. Wenn er den Kindern des jüdischen Kindergartens, sozusagen im Vorbeigehen, eine kleine Kunde in Tradition offeriert – nebenbei, sozusagen im Vorübergehen – merkt man, dass Chaim weiß, wovon er redet und glaubt, was er sagt.

Ob in Holland, Koksijde, Antwerpen oder Jerusalem – Chaim scheint überall zuhause zu sein. Weil er gläubig ist, jüdisch in seiner Art, seinem Wesen, seinem Blick auf die Welt. Nicht ritualisiert, sondern ideell, manchmal fast pragmatisch. „Wenn der Gott meine Gebete nicht erhört, so war ich wenigstens ein guter Mensch und hab‘ die Tauben gefüttert in der Synagoge.“ sagt Chaim, als er die Krumen im Hof des Gotteshauses verteilt. Eine große Bedürfnislosigkeit spricht daraus und dennoch eine wertschätzende Haltung gegenüber denen, die es mit ihrem Glauben ernst meinen. Mit denen, die nach außen hin, für die Leut‘, ihrem Glauben nachgehen, hat Chaim nicht so viel Lebenszeit übrig. „Selbst die teuerste Uhr hat nicht mehr als sechzig Minuten.“

LChaim_1„Bücher sind was Heiliges“ sagt Chaim, als er in den alten Schriften blättert, die seit Generationen weitergegeben werden. Und es ist an vielen Stellen diese Wertschätzung, Achtung und doch so genießerische Verschwendung für sich und andere, mit der L’CHAIM seinen Protagonisten und sich selbst geradezu feiert. What goes round comes round – daran ändert sich nichts. Doch Chaim legt lebendiges Zeugnis ab davon, dass ein Leben reicht, wenn man es gelebt hat. Wenn man es nicht gelebt hat, hilft einem auch nicht die Unendlichkeit.

Und so ist dieser Film ein Lehrstück darüber, was das Leben sich erlaubt – und eben auch denen, die es als das Geschenk anerkennen, dass es ist. Wie die Schatten der Vergangenheit zwar bleiben, aber nie größer sein können als die eigene Silhouette – wenn man wieder einmal Chaim dabei zusieht, wie er verschmitzt der hochstehenden Sonne entgegenblinzelt. Um dem Leben kostbare Augenblicke abzuringen, zu spüren, dass es sich lohnt, frei zu denken, frei zu atmen, frei zu fühlen. Eine schönere Liebeserklärung an das Leben hat es wohl lange nicht gegeben.

Erschienen ist L’Chaim in der – nach Bedarf – untertitelten, 16:9-tauglichen Originalfassung, mit zauberhaften deleted scenes und dem Trailer als Dreingabe. Shalom.

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L’Chaim – To Live!, D 2014 | Regie: Elkan Spiller | Darsteller: Chaim Lubelski, Nechuma Lubelski, Usher Lubelski, Shoshana Spiller, Mirsad Hadzikaric, Bernard Dukan

Anbieter: mindjazz pictures