Italienische ProgRock-Bands – und ihre Filmmusik. 1. Teil
Von Michael Kathe
Und plötzlich wurde Popmusik grenzenlos. Sprengte alle Konventionen. Katapultierte sich ins All. Wir schreiben das Jahr 1969, als King Crimson mit ihrem ersten Album „In the Court of the Crimson King“ eine Revolution anzettelten. Unter der Bezeichnung „Progresssive Rock“ verbergen sich manchmal bis zu 20minütige Songs, Tempiwechsel, komplizierte Rhythmen, ungewöhnliche Instrumentierungen und vieles mehr, das der heutigen Fastfood-Mentalität nicht entspricht. Viel Häme wurde seit den ProgRock-dominierten Siebzigern über die wirbligen Soundkaskaden von Yes, Genesis und Co. geschüttet, dass der Stil bis heute nicht wieder mehrheitsfähig geworden ist. Trotzdem wäre nicht nur die Musikwelt um einiges ärmer ohne Prog mit seinen vielen Innovationen, auch die Filmwelt würde leiden. Und: auch Italiens Filmwelt der Siebziger. Vor allem eine Band steht sinnbildlich dafür: Goblin.
In diesem Artikel sollen allerdings nicht die Soundtracks von Goblin und ein paar weiteren Bands vorgestellt werden, sondern ihr außerfilmisches Schaffen, dass in manchen Fällen noch exzellenter ist als die Soundtracks.
Progressive Rock ist definitiv eine der innovativsten musikalischen Bewegungen in der Geschichte der Popmusik. Alle Vorstellungen davon, wie Popmusik zu klingen hat, wurden in alle möglichen Richtungen erweitert oder umgekrempelt. Bands wie Jethro Tull oder Genesis schrieben Songs von über 20 Minuten Länge (eine LP-Seite), Yes schweißten Songs aus unzähligen Tempi- und Rhythmuswechseln. Komplexe Rhythmen fanden ebenso Einlass in die Popmusik wie Instrumente, die weit über Bass, Schlagzeug, Gitarre und orchestrales Arrangement hinausführten. Nicht nur Holz- und Blechblasinstrumente waren plötzlich angesagt, so wie Sitar und andere exotische Instrumente, auch mit den ersten Synthesizern konnte man in unerforschte Klanggebiete vordringen. Emerson, Lake and Palmer (ELP) und Keith Emersons Vorläuferband The Nice formten Klassik zu Rock um, Jethro Tull erhoben die Flöte zum Rockinstrument und Pink Floyd verstanden es, ihre pop-psychedelischen Wurzeln aus den Sechzigern in immer wieder neue, überraschende Experimente einzubetten.
Die Ehre des ersten wirklichen Prog-Albums steht allen Streitereien zum Trotz King Crimsons „In the Court of the Crimson King“ zu (1969). Eine Urgewalt von einem Album aus dem Land der Beatles und Stones. Woher sonst? Doch ProgRock beschränkte sich sehr schnell nicht nur auf England, dem Land der großen Popinnovationen. Französische Bands wie Magma oder Heldon versuchten die Grenzen des Pop noch weiter auszuloten, Deutschland brachte unter dem (von der englischen Musikpresse verliehenen) Label „Krautrock“ ein derart breites Spektrum an innovativen Bands hervor, dass selbst der damals noch mit einem Plattenversand und Plattenlabel Geld verdienende Richard Branson Deutschland besuchte, um Hippiekommunen auf dem Land zu besuchen – was schließlich im Signing der äußerst komplexen Band Faust führte. Die Berliner Synthesizer-Pioniere Tangerine Dream landeten ebenfalls auf Bransons Virgin-Label, während Kraftwerk mit dem Synthie-Frühwerk „Autobahn“ (1975) tatsächlich die Top Ten der US-Charts knackten. Inzwischen darf Krautrock vermutlich als der einzige Prog-Ableger gelten, der längst rehabilitiert ist, weil Bands wie The Can und Kraftwerk einen enormen Einfluss auf die britischen Punk- und Post Punk Bands, auf Rap und HipHop und auf Techno und House ausgeübt hatten.
Was jedoch kaum jemand weiß: Auch in Italien bildete sich eine unglaublich breitgefächerte ProgRock-Szene heraus. Einige der Bands sind heute in Italien noch bekannt und beliebt, doch wie sich die Asche des Vesuvs über die Hochkultur Pompejis legte, wird Italiens einst große Film-, Musik- und Intellektuellenkultur von Fernsehpüppchen, Fussballgewalt und faschistischen Parteien zerstört. Damals war Italien in Aufruhr. Bürgerliche und faschistische Killerkommandos bekämpften eine kommunistische Partei mit fast 50% Wähleranteil und revoltierende Studenten, die neue Lebensformen ausprobierten. Zu diesen komplexen Wirrungen der Gesellschaft lieferten unzählige progressive Bands quasi den Soundtrack.
Bekannt ist der Italian ProgRock zwar eher für seine softe Tendenz, die man bei ihren bekannten Vertretern wie Premiata Forneria Marconi (PFM), Banco del Mutuo Soccorso (BMS) oder Le Orme hört, doch der Eindruck täuscht. Es gab Bands mit harten Riffs, Bands, die sich musikalisch in die Weiten des Weltalls katapultierten, und Bands, die Musikstile fusionierten, an deren Vereinigung kein musikaffines Wesen denken würde.
Goblin
Goblin ist die bekannteste italienische Prog-Band, die sich mit der musikalischen Untermalung von Filmen befasst hat. Wobei Untermalung bei Goblin defintiv eine falsche Beschreibung ist. Goblins Filmmusik ist äußerst präsent. Was Dario Argento bei den Ennio-Morricone-Soundtracks seiner frühen Filme immer mehr zu vermissen anfing, wo er sich von Morricone unverstanden fühlte, das suchte er fortan in der Rockmusik. Bereits für VIER FLIEGEN AUF GRAUEM SAMT hätte er sich statt Morricone Deep Purple als Band für den Soundtrack gewünscht. Für seinen 1975 entstandenen Film PROFONDO ROSSO nahm er vorab mit Pink Floyd Kontakt auf.
Pink Floyd waren schon vor ihrem Aufstieg ganz oben in den Rockolymp mit dem „Dark Side of the Moon“-Album (1973) die Halbgötter für Filmsoundtracks, dank ihren Soundtracks für Barbet Schroeder („More, „Obscured by Clouds“) und dem wuchtigen Einsatz ihres Songs „Careful with that axe, Eugene“ in Antonionis ZABRISKIE POINT. Leider sagte die Band Argento ab.
Parallel dazu ließ er bereits den Jazzmusiker Giorgio Gaslini Musik komponieren. Doch mit zunehmender Zusammenarbeit fühlte er sich immer weniger wohl und suchte verzweifelt nach anderen Bands und Musiken, ließ sich von Freunden beraten und stolperte eines Nachts über ein Demotape von Goblin. „It was clear they all attended music conservatories and hadn’t just learnt how to play the guitar at home. I spoke with Claudio Simonetti about the group’s possible musical involvement in the film and two great compositions arrived the next day.“ (Zitat: Alan Jones: „Dario Argento. The Man, the Myths & the Magic“, S. 65)
Goblin entstand aus der Band Oliver, die 1973 von Claudio Simonetti und Massimo Morante gegründet wurde. Sie nahmen einige Songs als Demos auf und gingen ins stets hippe London, wo sie Kontakt mit Eddy Offord aufnahmen. Offord war der Superstar unter den ProgRock-Produzenten und derart begehrt, dass er die beiden Big Shots der Szene, die Supergruppen Yes und Emerson, Lake & Palmer parallel betreute. Und das nicht nur von London aus, sondern auch auf ihren immer gigantischer werdenden Tourneen (als das nicht mehr aneinander vorbei ging, entschied er sich für Yes). Nachdem sich Offord Olivers Demotapes angehört hatte, erklärte er sich bereit, ihr Album zu produzieren.
Doch zu früh gefreut. Als sie nach London zurückkamen, war Offord gerade mit Yes auf Tournee und konnte sich der aufstrebenden Band nicht mehr annehmen. Dank Claudio Simonettis Vater erhielt die Band trotzdem einen Plattenvertrag, nahm ein Album unter dem neuen Bandnamen Cherry Five auf.
Ihr selbstbetiteltes Album „Cherry Five“ (1975) ist beste, ausgefeilte progressive Musik, vom Pathos King Crimsons genauso beeinflusst wie von den Keyboardlines ELPs und der Romantik von Genesis. Das Album mag ob dieser Einflüsse nicht ganz so „italienisch“ wirken. Mit schuld daran dürfte allerdings sein, dass es Englisch gesungen ist. An „Cherry Five“ lässt sich auf großartige Weise erkennen, wie versiert die zukünftigen Goblin bereits ihre Fähigkeiten einsetzen konnten. Das Album ist nicht nur instrumental erstklassig, sondern schafft es auch äußerst versiert, Emotionen mit einem cleveren Harmoniewechsel sofort in andere Emotionen zu überführen und ein überraschendes und gelungenes Kippen von einer zur nächsten Stimmung zu zelebrieren. Als wäre jeder der meist um die 8 Minuten langen Songs bereits ein kleiner Film.
Trotzdem brauchte Argento noch ein wenig Überzeugungsarbeit. Er wollte angeblich erst nur, dass die Band Gaslinis Kompositionen umsetzte – nach einiger Zeit jedoch überzeugte er Gaslini vom Gegenteil und bat ihn den Film nicht fertig zu komponieren. In der Folge ließ Argento die Band, die sich inzwischen in Goblin umbenannt hatte, die Hauptthemen komponieren und spielen.
Vor allem der Titeltrack mit dem gespenstischen und hypnotischen Arpeggio (im 7/4tel Takt notabene) ist italienische Musikgeschichte. Er verstärkte nicht nur die Spannung der Films ins Unaushaltbare, sondern war auch überaus erfolgreich. Sowohl Single wie Soundtrack-LP von PROFONDO ROSSO hielten sich insgesamt 16 Wochen auf dem ersten Platz der italienischen Charts. Die Grundidee für die neuartige musikalische Dramaturgie stammte allerdings von Mike Oldfield (dem erfolgreichsten Branson-/Virgin-Records-Schützling), dessen Arpeggio-Intro seines Prog-Mammutwerks „Tubular Bells“ durch Zufall zweimal den Weg in William Friedkins Horror-Klassiker THE EXORCIST (1973) fand, was den Erfolg des Stücks vervielfachte. Goblins „Deep Red“ basierte zwar im ersten Teil des Songs auf demselben Prinzip (gespielt übrigens auf Minimoog, Cembalo und Volksgitarre), schaffte aber den Rank in einen dramatischen, orgeldominierten und rockigen Climax, der sich nicht in Dur auflöste, sondern ebenso unheimlich die dunklen Seiten des Lebens heraufbeschwörte. Für diese Aufnahmen, das sei vermerkt, gehörte kurzzeitig Schlagzeuger Walter Martino zur Band, der später Mitglied der Band Libra wurde (von der noch die Rede sein wird).
Im nächsten Jahr nahmen Goblin das Album „Roller“ mit Instrumentaltracks auf, das erstmal nichts mit Filmmusik am Hut hatte, von dem jedoch später einzelne Stücke zur Vertonung von George A. Romeros MARTIN (1977) verwendet wurden. „Roller“ besticht phasenweise mit ähnlich hypnotischen Passagen wie der Titelsong von PROFONDO ROSSO, ist aber bei weitem nicht so ein Reißer und wirkt insgesamt unendlich lieblicher. Wiederum sehr schöne, versierte, manchmal hochdramatische Musik. Augen zu und Film ab. „Roller“ ist ein gutes Album, konnte aber den kommerziellen Erfolg von „Profondo Rosso“ nicht wiederholen und so kam es Goblin gelegen, dass Dario Argento sie ein zweites Mal für einen Soundtrack anfragte. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die erfolgreiche italienische ProgRock Band Banco del mutuo Soccorso für sein SUSPIRIA-Projekt zu gewinnen, schwenkte er wieder auf Goblin ein. Und diese zweite Wahl zahlte sich aus, darf doch auch der Soundtrack zu SUSPIRIA zu den Meisterwerken der Horror-Filmmusik gezählt werden.
1978 war die Zeit reif für Goblin, nach und neben weiteren Soundtracks nochmal ein Rockalbum zu machen. Nicht einfach ein weiteres Album, sondern „Il Fantastico Viaggio del Bagarozzo Mark“ (1978), ein Konzeptalbum, das beweisen würde, dass sie auch ohne Filme zu Großem fähig sind. Trotzdem bleiben Goblin den Stories verhaftet. Die Songs sind erstmals gesungen (von Massimo Morante) und handeln vom Bagarozzo Mark (einem Käfer?), der im Land Goblin den erstaunlichsten Kreaturen begegnet. Ob damit Drogenthemen abgehandelt werden oder einfach ihre Umgebung mehr oder weniger verklausuliert geschildert wird (Songtitel: „Un ragazzo d’Argento“), sei dahingestellt. Das Album hat etwas sehr umfassendes und abgeschlossenes, ist perfekt instrumentiert, abwechslungsreich, sehr symphonisch und verkörpert einige der Tugenden der italienischen Spielart des ProgRock: Theatralik, Drama und Romantik. Immer wieder brachen Goblin in diesem Album aus den eingefahrenen Mustern des frühsiebziger ProgRock aus und reicherten ihre Musik mit modernen Zutaten an. Und zwei der Songs, „La Danza“ und „Notte“ wurden doch noch in Filmen verwendet (Romeros MARTIN und Bruno Matteis VIRUS). In seiner in sich ruhenden Vielseitigkeit darf „Il fantastico viaggio …“ als ein essentielles, überaus kommerzielles Album des späten italienischen ProgRock betrachtet werden – dem allerdings der große Erfolg verwehrt blieb.
Leider trennten sich in den Jahren 1978/79 zwei treibende Kräfte von Goblin: Massimo Morante strebte eine Solokarriere an und Claudio Simonetti begann damit, Italo Disco zu fabrizieren und produzieren. Während Morantes typische Eighties Rockmusik trotz Zusammenarbeit mit dem italienischen Glamrock-Star und Über-Cantautore Renato Zero (Album: „Corpo a Corpo“) musikalisch eher belanglos und nicht sonderlich erfolgreich war, konnte Simonetti tatsächlich kommerzielle Erfolge erzielen. Seine Keyboardkünste passten bestens in die Synth-Ära der späten Siebziger und frühen Achtziger. Und Italo Disco war der heiße Scheiß in Italien, in seiner Simplizität das totale Gegenteil zum ProgRock und prägend für die Entwicklung einer selbstbewussten Schwulen-Clubmusik (definitiv ist Italo Disco ein Vorläufer von HiEnergy). Zusammen mit dem Produzenten Giancarlo Meo produzierte er die Band „Easy Going“ (benannt nach dem gleichnamigen römischen Schwulenclub) und reüssierte mit dem überaus kommerziellen „Baby I love you“ (1978). Schon früh war Italo Disco etwas „italienischer“ und „direkter“ als die damals noch verklausulierteren, coolen US-Disco-Pendants, erkennbar in Titeln wie „Gay time latin lover“ oder „I strip you“. Etwas origineller war die Zusammenarbeit von Simonetti und Meo für Vivan Vee. Europäische Discomusik im Stil des „Munich Sounds“ von Giorgio Moroder. Wer auf die etwas romantischere Art elektronischer Discomusik steht, sollte sich Vivien Vee beschaffen (aus der Simonetti/Meo-Phase). Ihr Song „Remember“ fand sich übrigens auf dem THE WARRIORS-Soundtrack (1979).
Für Filmsoundtracks gab es ab 1982 Wiedervereinigungen von Goblin unter unterschiedlichen Namen – so schaffte es Argento zum Beispiel 1982, Simonetti, Morante und Urmitglied Fabio Pignatelli unter deren Nachnamen für den Soundtrack von TENEBRAE zusammen zu bringen. Relevante Nicht-Soundtrack-Alben von Goblin erschienen in den Achtzigern jedoch keine mehr.
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