Dark Glasses - Blinde Angst

Dark Glasses – Blinde Angst

Von Michael Kathe

Irgendwie waren die Erwartungen an den „neuen Argento“ von vielen Seiten her gedämpft. Das zeigt sich ja auch darin, dass auch hier bei Splatting Image bisher noch niemand den Film besprochen hat. Seltsame Welt, mag man meinen, doch die großen Filme des Meisters liegen ja auch zwischen 40 und über 50 Jahren zurück. Trotzdem ist es Pflicht, den jeweils neuesten Film des Meisters anzusehen, zumal er „seinem“ Genre, dem Giallo, ja treu bleibt und in DARK GLASSES durchaus bestrebt ist, das Genre einmal mehr wieder etwas anders zu denken. Und tatsächlich ist der Film bei weitem keine Enttäuschung. Allfällig heruntergeschraubte Erwartungen stammen wohl daher, dass sein letztes Werk vor 10 Jahren nurmehr ein schlechter Abklatsch seiner großen Gialli war.

Argento will es nochmal wissen, das wird bereits am Anfang des Films deutlich. DARK GLASSES beginnt mit der wunderbaren Situation einer Sonnenfinsternis, die Michelangelo Antonionis Meisterwerk L’ECLISSE (1962) auf faszinierende Weise zitiert. Argento filmt den unreal anmutenden Moment der Sonnenfinsternis in Farbe, der in Antonionis Film noch schwarzweiß war. Eine Frau, unsere Heldin Diana (Ilenia Pastorelli), fährt durch einen ruhigen, grünen Vorort Roms – vor allem gezeigt durch Subjektiven, die Richtung Himmel weisen. Mystische Klänge. Irgendetwas scheint die Menschen auf den Balkonen umzutreiben. Das Bild wird immer stärker blau-grün-verwischt, lediglich die knallroten Lippen und die sexy roten Kleider Dianas bilden einen Kontrast dazu. Als die Sonnenfinsternis einsetzt, muss auch Diana ihre Sonnenbrille aufsetzen, um die Finsternis zu sehen. Wenn die Dunkelheit kommt, nimmt sie die Konfrontation auf. Und das wird genau ihre Haltung sein, nachdem sie später erblinden wird: Sie trägt die Sonnenbrille, damit sie sich „sehend“ in der Welt bewegen und die Konfrontation mit dem Serienmörder aufnehmen kann. (Also das Gegenstück zu Cristina Marsillach in OPERA, die zum Sehen gezwungen wird).

Der Filmtitel ist aber nicht „BLIND“, also nicht die Perspektive der Protagonistin, sondern DARK GLASSES (OCCHIALI NERI), die abgedunkelte Trennscheibe zwischen der Protagonistin und dem (Mord-) Geschehen. In den dunklen Gläsern reflektiert sich das Mordgeschehen, sie sind der Bildschirm (oder idealerweise die Kinoleinwand) dessen, was wir sehen. Das, was sich Diana aber nicht ansehen muss. Aus anderer Perspektive sind die dunklen Gläser auch das, was eine Sonnenbrille ausmacht: Cool aussehen, cool bleiben, dem Gegenüber nicht zu verstehen geben, was man fühlt.

Aber zurück zum Anfang: Diana ist ein Edelprostituierte in Rom, die ihre Arbeit nicht nur gut macht, sondern sich auch nicht misshandeln und degradieren lässt. So viel Selbstbewusstsein passt nicht allen Männern, weshalb sie sich auch schon aus gewissen Situationen mit Pfefferspray befreien muss. Zur gleichen Zeit treibt sich ein Prostituiertenmörder in der Stadt herum, der zuerst eine Prostituierte in einer türkisfarbenen Jacke ermordet. Die Farbe der Jacke nimmt die Farbästhetik der Anfangsszene auf, diesmal kontrastiert durch das Rot des Blutes. Doch die Mordszene drehte Argento nicht mehr mit der giallo-as-giallo-can-Intensität früherer Filme: Der Mord ist zwar explizit und blutig, hat aber weder die unglaubliche, in die Länge gezogene Massakrier-Choreografie (wie sie nur Argento und De Palma hinbrachten) noch die Gewaltexzesse früherer Zeiten. Auch bei Argento haben sich die Zeiten gewendet: Gewalt gegen Frauen im Film ist heute (natürlich zurecht) ein relevanteres Thema als früher. Dem wird Argento auch mit seiner Frauenfigur Diana gerecht, die sich in der Folge nicht nur auf einer Tour de Force gegen den brutalen Mörder wehrt (wie so viele „Final Girls“ im Horrorfilm), sondern auch ihr Rechtsbewußtsein in vielen Situationen erhält, etwa bei einfachen chauvinistischen Grenzüberschreitungen der Polizei.

Ganz im Sinne von Hitchcocks innovativem Scriptwriting (VERTIGO, PSYCHO) gibt‘s einen großen Bruch im Plot. Das Leben der Hauptdarstellerin ändert sich völlig, als sie nach einem Autounfall erblindet. Grund für ihren Unfall war die Verfolgung des Mörders. Als sie im Spital vom Schicksal ihres Augenlichts erfährt, setzt sie eben jene Dark Glasses wieder auf. Ein neues Leben beginnt, ein Teil des alten wird sie aber erbarmungslos heimsuchen.

Auch musikalisch trennt sich der Film in zwei Welten. Seltsame sphärische Musik setzt sich weiter fort, als dieser seltsame Typ, „Matteo, du kennst mich vom Chat“, vorbeikommt, von ihr zum Duschen aufgefordert wird – und er schließlich ohne Sex, dafür mit den Worten „Ich stinke also… Scheiss-Hure“ wieder geht. Kontrastiert wird die sphärische Musik massiv durch einen harten 4 to the floor-Beat, wenn’s dramatisch wird. Musikalisch hat sich Argento definitiv von den Siebzigern, von Claudio Simonetti und Goblin entfernt. Die Unterschiede in der Wahrnehmung sind interessant: Die Musik von Arnaud Rebotini verleiht den Lebensumständen der Filmcharaktere eine ätherischere, etwas lebensfremdere Qualität im Gegensatz zu den Mysterypassagen Goblins, die stärker auf die individuelle Wahrnehmung der Protagonisten abzielte. Der knallharte Technobeat in DARK GLASSES kommt dagegen gnadenloser und brutaler daher als die kräftigen Höhepunkte in Goblins Musik.

Nicht zuletzt gibt es im zweiten Teil des Films auch eine örtliche Verschiebung. Aus der Stadt Rom hinaus in die Wälder vor der Hauptstadt, die Argento selbst als „unbequem und gefährlich“ bezeichnet. Als wiederkehrendes Motiv in Argentos Werk haben Wälder immer wieder eine andere Bedeutung, aber mehr sei dazu nicht verraten. (Und dabei habe ich noch nicht mal die zweite Hauptfigur des Films, den kleinen Jungen Chin, Xinyu Zhang, erwähnt.) Wer inhaltlich mehr erfahren will, ist übrigens mit der wunderschönen Mediabox von Pierrot Le Fou sehr gut bedient: Ergänzt wird der lesenswerte Essay von Stefan Jung durch einen guten Audiokommentar von Marcus Stiglegger und nicht zuletzt ein interessantes Interview mit Dario Argento. Und – neben guter Bild- und Tonqualität – warten ein paar Extras, wie ein Behind the Scenes, eine Grußbotschaft des Meisters und ein kleines Filmposter.

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Occhiali neri, Italien/Frankreich 2022 | Regie: Dario Argento | Drehbuch: Dario Argento, Franco Ferrini | Kamera: Matteo Cocco | Musik: Arnaud Rebotini | Darsteller: Ilenia Pastorelli, Asia Argento, Andrea Gherpelli, Mario Pirrello, Maria Rosaria Russo, Gennaro Iaccarino, Xinyu Zhang u.a. | Laufzeit: 90 min.

Anbieter: Pierrot Le Fou