Medusa

Medusa

Von Michael Kathe

Nacht in einer mäßig beleuchteten Strasse. Einsam geht eine Frau nach Hause. Plötzlich tauchen hinter ihr in gemessenem Abstand sechs weitere junge Frauen auf. Sie ziehen weiße, „gesichtslose“ Masken an. Und folgen der Frau in schnellen Schritten in einer Phalanx. Die Frau fühlt sich bedroht, verschnellert ihre Schritte. Die Frauen hinter ihr auch, raunen „Teufel … Schlampe … Sünderin“. Die Verfolgte rennt los, die Verfolgerinnen ebenfalls. Die Verfolgte wird eingeholt, zu Boden geworfen, geschlagen und mit Fußtritten malträtiert – und nicht zuletzt wird all das mit Smartphones gefilmt, inklusive einer Selbstanklage und dem Versprechen, fortan nach strengem christlichem Gesetz zu handeln.

Denn Sünde ist bereits, als Frau nachts allein nach Hause zu gehen. Und wer weiß, vielleicht hat die Sünderin bei ihrem abendlichen Date noch ganz anderes getan! Die Schlägerei ist ein Mittel zur Einschüchterung, eine Art Zwangschristianisierung, ganz in der Tradition der Amerikaentdecker, doch hier nicht als kolonialistischer, sondern als gesellschaftspolitischer Akt. Die Jugendgangs demonstrieren eine Ideologisierung und gezielte Kanalisierung von Jugenddelinquenz im Namen einer Religion, die in Brasilien (wie in den USA) immer irrationalere und martialischere Züge annimmt. Vorbei die Zeiten der Befreiungstheologie. Ein stockreaktionärer Katholizismus und die noch schlimmere evangelikale Kirche breiten sich mit irrwitzigen Bibelauslegungen und dank großer finanzieller Unterstützung rasant aus. In Brasilien ein großes Thema und ein festes Standbein des Bolsonarismus. Und für das unabhängige Filmschaffen in Brasilien, von Bolsonaro immer mehr in Schranken gewiesen, natürlich ein essenzielles gesellschaftspolitisches Thema, an dem man nicht mehr vorbei kommt (s.a. DIVINO AMOR).

MEDUSA führt uns danach behutsam in die rosarote, glückliche Welt der christlichen Gemeinde ein. Die Girlies sind nicht nur als anonyme, brutale Bekehrerinnen-Gang auf Social Media erfolgreich, sondern als Jesus-verehrende, zuckersüße Girl Group bezirzen sie die junge Gemeinde zwischen den Worten des Priesters. Sie singen Liebessongs für Jesus Christus und sehen adrett aus. Ihr Lebensstil ist eben auch identitätsstiftend. Mit verklärtem Blick sehen sie zu, wenn ihre durchtrainierten, männlichen Pendants sich auf gewalttätige Auseinandersetzungen vorbereiten.

Die Tugendhaftigkeit der jungen Frauen korreliert mit ihrem makellosen Aussehen. Ihre Gesichter sind jedoch genauso Masken wie die „gesichtslosen“ weißen Masken, die sie für ihre blutrünstigen Taten brauchen. Hinter Ihren makellosen Gesichtern verstecken sie ihr Seelenleben. Michele (Lara Tremouroux) betreibt einen Youtube-Channel mit Make-up- und Stylingtipps für christliche Frauen, Mari (Mariana Oliveira) arbeitet bei einem Schönheitschirurgen. Reinheit ist Schönheit – und umgekehrt.

Doch dann passiert das Unglück. Eine der Verfolgungsjagden geht schief für Mari, sie wird – von den anderen unbemerkt – von ihrem Opfer im Gesicht verletzt. (Zuvor wieder eine Verfolgung, bei der man sich unversehends in einem Argentofilm wähnt, allerdings nur einige Sekunden: Regisseurin Anita Rocha de Silveira ist nicht daran gelegen, das Women-in-Peril-Genre unnötig lang zu benutzen.) Mari hat eine deutliche Schramme auf der Backe, die sie zwar so gut wie möglich verdeckt, die sie aber trotzdem ihren Job kostet. Als Halb-Aussätzige begibt sie sich nun auf die Mission, nach „Melissa“ zu suchen.

Melissa ist nicht nur eine weitere Frauengestalt, deren Name mit einem M beginnt. Melissa ist – so will es der Mythos der christlichen Gemeinde – das promiskuitivste Girl, das jemals in der Stadt gelebt hat. Bis angeblich eine Frau mit weißer Maske einst Melissas Gesicht anzündete: Dieser merkwürdige Subplot entpuppt sich als urbane Legende, die zum Gründungsmythos der Frauenschlägergruppierung wurde. Mari glaubt, das Melissa noch lebe. Möglicherweise in einer Komaklinik, wo sie auch gleich einen Job erhält. Dass das alte Gebäude mit den im Koma liegenden Patienten, insbesondere während der Nachtschicht, ein gespenstisches Szenario bietet, wird von Anita Rocha de Silveira auch weidlich ausgeschmückt. MEDUSA wird nun auch zum Horrorfilm mit Scare-Jumps und mystischen Horrormomenten, um die Dämonen in und um Mari auszutreiben. Dabei setzt de Silveira die Horrorelemente so ein, wie es Adrian Gmelch in seinem neuen Buch „Art Horror“ für die in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre aktuellen Horrorfilme beschreibt: „Das Erzählte, die Geschichte und die Themen, die damit einhergehen, sind wichtiger als das Genregerüst, in dem sie verortet werden, dem Horrorfilm. Die Filmemacher verwenden das Genre zu ihren Zwecken, passen es an, deuten es neu, ja missbrauchen es vielleicht sogar.“

In MEDUSA kontrastieren die Giallo- und Horrorelemente wunderbar zur christlichen Ideologie und dem harmonischen, oberflächlichen Leben ihrer Protagonisten, in denen wir uns eher im Melodram und natürlich der Parodie befinden. Während der Giallo die christliche Missionierung ins Visier nimmt, zeigen die Horrorelemente die Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche, die innere Zerrissenheit und Ängste auf, die schließlich zu einer Veränderung führen. Dass Maris Veränderung nicht die Gruppe verändert, ist zu erwarten – zeigt sich doch auch, wie die Frauen in der christlichen Gemeinde der strukturellen und manchmal expliziten Gewalt der Männer ausgesetzt sind (Michele wird von ihrem Freund brutal geschlagen und überschminkt das dunkle Auge für ihren Beauty-Channel) und sich die Frauen untereinander schnell die Honigtöpfe streitig machen. Eine „Freundin“ der beiden Protagonisten jedenfalls ist schnell im Denunzieren: „Michele, Mariana, Melissa … Ich habe einmal gelesen, dass Mädchennamen, die mit dem Buchstaben ‚M‘ beginnen, Namen von böswilligen Frauen sind … Maria Magdalena … Messalina … Monster.“ Anzufügen wäre da nur noch die titelgebende Gorgone Medusa aus der griechischen Mythologie: Deren Gesicht wurde von Athene deshalb so entstellt, dass sie niemand mehr ansehen konnte, ohne in Stein verwandelt zu werden, weil sie ihr Zölibat durchbrach (laut Ovid durch eine Vergewaltigung Poseidons).

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Medusa, Brasilien 2021 | Regie & Drehbuch: Anita Rocha de Silveira | Kamera: Joao Atala | Musik: Bernardo Uzeda | Darsteller: Mari Oliveira, Lara Tremouroux, Joana Medeiros, Felipe Frazao, Thiago Fragoso, Bruna Linzmeyer u.a. | Laufzeit: 127 min.