Niemandsland – The Aftermath

Niemandsland – The Aftermath

Von Michael Hille

„Sie sind im Begriff, einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen“, liest ein kleiner Junge laut im Zug. „Halten Sie sich unbedingt von den Deutschen fern. Jedes Fraternisieren ist unerwünscht.“ Die Britin Rachael Morgan sitzt dem Jungen gegenüber. Der Zug bringt sie im Winter 1945 in das zerbombte Hamburg, der Zweite Weltkrieg endete vor fünf Monaten. Ihr Gatte Lewis, ein hochrangiger Besatzungsoffizier, erwartet sie dort. Er soll die Entnazifizierung der Stadt beaufsichtigen und will mit seiner Frau in einer von den Alliierten beschlagnahmten Villa an der Elbe wohnen. Schon bei ihrer Ankunft ist Rachael verwundert, welche Töne ihr Mann gegenüber dem besiegten Feind anschlägt. „Auf Hamburg sind an einem Wochenende mehr Bomben gefallen als auf London im ganzen Krieg“, erklärt er ihr. Mitgefühl ist in seiner Stimme.

Sich von den Deutschen fernhalten wird schwierig für Rachael, als sie erfährt, dass der Architekt ihres neuen Hauses, der deutsche Stefan Lubert und seine Tochter Freda, von ihrem Mann eingeladen wurden, weiter auf dem Dachboden zu leben. Woher er wisse, bei beiden handle es sich nicht um ehemalige Mitglieder der Partei, fragt seine Frau. Immerhin hat Lubert bislang keinen Persilschein ausgestellt bekommen. „Ich bezweifle, dass man einen Menschen aufgrund eines Fragebogens beurteilen kann“, sagt er. Doch was macht man stattdessen? „Man sieht ihm in die Augen.“

Nun sieht Rachael genauer hin: In den Augen des Architekten, der um seine Frau trauert, die bei einem der Bombenabwürfe ums Leben kam, sieht sie Schmerz, denselben Schmerz, den sie in den Augen ihres eigenen Mannes nicht erkennen kann. Dabei verlor auch das Ehepaar Morgan ihren kleinen Sohn auf dieselbe Weise, als in London eine Bombe ihr Haus zerstörte. Der Schmerz entfremdet das eine Paar und bringt das andere zusammen. Aus der anfänglichen Ablehnung, die Stefan und Freda von Rachael zu spüren bekommen, wird seelische Verbundenheit. Als sie sich einen Ruck geben, der erste Kuss zwischen ihr und dem Deutschen fällt, stehen sie regelrecht in Flammen.

Von einer riskanten Affäre also erzählt NIEMANDSLAND – THE AFTERMATH, basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage des walisischen Autors Rhidian Brook. Sein Roman landete eines Tages auf dem Schreibtisch von Regie-Gigant Ridley Scott. Der war sofort fasziniert: Scotts eigener Vater war britischer Offizier, der nach dem Krieg ebenfalls in Hamburg stationiert wurde. So lebte Scott als 10-Jähriger selbst in einem ganz ähnlichen Haus. Ursprünglich wollte er daher unbedingt persönlich THE AFTERMATH inszenieren, doch mit beiden Händen in andere Projekte eingebunden, fungierte er schlussendlich nur als Produzent, gab die Regie an den TV-erfahrenen James Kent ab. Klar ist: Hätte Scott inszeniert, wäre dies ein anderer, ein autobiografischerer Film geworden. Aber auch ein besserer?

Auf dieses Urteil mag man kommen, liest man die Kritiken, die 2019 kaum ein gutes Haar an der Romanverfilmung ließen. Nahezu jede Rezension nutzte das böse Schlagwort: „Kitsch“. Der Film sei plump inszeniert, drücke auf die Tränendrüse, ließe Subtilität vermissen. Die Affäre zwischen Stefan und Rachael wurde als „naiv“ empfunden, über die teils pompöse Bildsprache schrieb David Steinitz abfällig in der Süddeutschen Zeitung, der Film sähe aus „wie eine schicke Luxusuhrenwerbung, die aus unerfindlichen Gründen im Jahr 1946 spielt“. Patrick Seyboth von EPD Film fand, Regisseur Kent erzähle „kurzatmig und grob wie eine Vorabend-Soap“.

All das mögen in einem gewissen Rahmen zutreffende Beobachtungen sein, doch übersehen sie die Ambitionen dieser wunderbar sinnlichen Filmperle. Rhidian Brook hatte sich einen Namen als Autor rührender Melodramen gemacht. Er schrieb „The Aftermath“ als eine epische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund, nach Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos der 40er- und 50er-Jahre. James Kent hat das erkannt – so verzichtet seine 109 Minuten lange Adaption gänzlich auf die ironischen Metaebenen und den postmodernen Zynismus, mit dem sich Regisseure seit der Jahrtausendwende dem romantischen Genre meist nähern. In seinem Film wird noch mit großen Gesten geliebt, mit Dackelblick geschmachtet, und ohnehin darf kein einzelner Kuss ohne meterdickes Pathos auskommen.

Kaum zufällig hat er Rachael mit der großartigen Keira Knightley besetzt, die jahrelang durch Literaturverfilmungen wie STOLZ UND VORURTEIL, ANNA KARENINA oder ABBITTE zum letzten Gesicht des melodramatischen Kinos geworden ist. Ihr Charme ist klassisch, ihr Schauspiel überlebensgroß. Es ist keine Überraschung, zu sagen, dass THE AFTERMATH ganz und gar ihr gehört, von ihrer Ausstrahlung, ihrem Charisma lebt. Ergreifend, wie sie am Klavier einsam „Claire de Lune“ von Claude Debussy spielt und dabei in Erinnerung an ihren Sohn in Tränen ausbricht. Wiederum köstlich mit anzusehen, wie sie sich im Prunk ihrer neuen Behausung unwohl fühlt und an einem ungewöhnlichen Sessel stört, ehe Stefan ihr fachmännisch erklärt, dass dieser von Ludwig Mies van der Rohe gestaltet wurde, dem berühmtesten Vertreter des Minimalismus in der Architektur, der die Formel prägte: „Weniger ist mehr.“

Für den Film gilt dieser Grundsatz nur selten, sehr wohl aber für Jason Clarke als Lewis und Alexander Skarsgård als Stefan. Sie überlassen die übersprudelnden Emotionen ganz Keira Knightley und erden den Film durch zurückgenommene Auftritte. Skarsgård legt seinen Bildungsbürger gar als lebende Chiffre an, als geheimnisvollen Kavalier, spielt seine Anziehung zu Knightley glaubhaft – nur wenn er im Originalton Deutsch sprechen muss, wirkt der gebürtige Schwede ungemein weniger authentisch. Jason Clarke zeigt dafür sein ganzes Talent in einem schwierigen Part: Als altruistischer Militär will er aufrichtig dem leidgeplagten deutschen Volk helfen, muss aber in Gefahrensituationen und bei Verhören den starken Mann markieren. Die Liebesbeziehungen von Rachael mit beiden Männern haben dank dieser feinen Charakterisierungen die nötige emotionale Tiefe und Größe.

Groß ist vieles an diesem Film, vor allem, wie er das „Niemandsland“ des deutschen Titels illustriert. Die Trümmerhaufen des zerstörten Hamburgs musste die Produktion am Computer erstellen, die Außenaufnahmen fanden in Prag statt. In kalten, dunklen Farbtönen zeigt Kent eine schneebedeckte Welt, in der Hoffnung und Perspektive verloren sind. Mehrfach schwingt seine Kamera über die Gesichter der Hamburger, die vom Krieg gezeichnet, traumatisiert sind. Stefans Tochter Freda freundet sich mit Albert an, einem ehemaligen Hitlerjugendlichen, gespielt von Jannik Schümann. Dieser greift einmal vor ihren Augen auf den verschmutzten Boden, hält ihr seine mit Dreck beschmierte Hand entgegen, sagt: „Das ist der Staub unserer Stadt. Die Asche, die von den Menschen geblieben ist.“ In den Arm hat er sich eine „88“ gebrannt …

Als Gegengewicht zum vernichteten Hamburg fungiert die in warmen Farben gefilmte Villa der Morgans. Gedreht wurde dafür in Schleswig-Holstein im Schloss Tralau. Allzu leicht wäre es, die Arbeit des Kameramanns Franz Lustig als elegant und umwerfend zu beschreiben, weil die Kulisse, die er abfilmt, elegant und umwerfend ausschaut. Es ist aber erst seine wunderbare Bildgestaltung, seine einfallsreiche Kinematographie, die aus THE AFTERMATH ein solches Vergnügen macht – insbesondere im Zusammenspiel mit der dezenten, meist nur subliminal wahrzunehmenden Filmmusik von Martin Phipps.

Welch düstere Historie selbst die schönsten deutschen Gemäuer haben, vergessen weder Film noch Rachael: In jedem requirierten Haus, das sie besucht, bemerkt sie ein weißes Quadrat an der Wand. Es sind die Umrisse eines abgehängten Gemäldes. „Wer hat da gehangen?“, will Rachael wissen. „Der Führer“, antwortet ihr eine Freundin. „Der Schandfleck, der nicht verschwindet.“

Die Metaphern sind groß, das Szenenbild von Sonja Kraus theatralisch, die Dialoge schwülstig, das Schauspiel der Hauptdarstellerin gewaltig. Obwohl die Situation im Haus der Morgans auch die Situation des besetzten Deutschlands widerspiegelt, in dem einstige Feinde plötzlich nebeneinanderher leben müssen, ist James Kent mit seinem fantastischen Erotikdrama von einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der politischen Situation der frühen Nachkriegszeit weit entfernt. Sein Film entstammt der Tradition des goldenen Zeitalters des Hollywood-Kinos, ist als würdiger Erbe von DOKTOR SCHIWAGO oder gar VOM WINDE VERWEHT zu verstehen.

Mit Ridley Scott als Regisseur wäre dieser Film so wohl nicht entstanden. Gut also, dass er sich für eine Produzententätigkeit entschied. Schade nur, wie Großteile der internationalen Filmkritik auf das fertige Werk reagierten. Wieso sollte „Kitsch“ ein Vorwurf sein, wenn er doch so inspiriert umgesetzt wird? Die altmodischen US-Melodramen sind vielleicht zurecht aus der Kino-Gegenwart verschwunden, vielleicht hat das Publikum aber auch verlernt, sich auf offenherziges Überwältigungskino einzulassen. Mit dieser Gattung Film ist es wie mit dem ersten Kuss: Wer sich einen Ruck gibt, kann danach regelrecht in Flammen stehen. Aber man muss sich dafür fallen lassen können. NIEMANDSLAND – THE AFTERMATH ist perfekt für alle, die genau das wollen – oder es erst lernen möchten.

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The Aftermath, USA 2019 | Regie: James Kent | Drehbuch: Joe Shrapnel, Anna Waterhouse, Rhidian Brook | Kamera: Franz Lustig | Musik: Martin Phipps | Darsteller: Keira Knightley, Jason Clarke, Alexander Skarsgard, Anna Schimrigk, Ned Wills, u.v.a. | Laufzeit: 108 Min.