Last Night in Soho

Last Night in Soho

Von Shamway

Die sechziger Jahre sind vor allem in Großbritannien eines der prägendsten Jahrzehnte der Nachkriegsgeschichte. Die Welt am Ende der Sixties sah anders aus als noch 1960, sehr zum Missfallen der Konservativen und Rechten. Denn im Prinzip war das Jahrzehnt ein einziger Befreiungsschlag in Sachen Musik, Film, Kunst, Partizipation am politischen Geschehen usw. Dass es dabei dunkle Seiten gab, hat bereits Quentin Tarantino in ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD gezeigt – ohne den Konservativen eine Vorlage zu geben. Tarantino-Kumpel Edgar Wright macht nun dasselbe anders. Er nimmt sich nicht das „Ende“ der Hippiezeit im kommerziellen Los Angeles vor, sondern die Frühzeit der Sechziger in den dunklen Gassen Sohos und die Zeit der großen englischen Croonerinnen Dusty Springfield, Petula Clark, Sandie Shaw, Cilla Black.

LAST NIGHT IN SOHO spielt auf zwei Zeitebenen und beginnt mit der Verklärung der Vergangenheit. Eloise (Thomasin McKenzie) lebt in Cornwall auf dem Land, will Modedesignerin werden und lebt für die frühen Sechziger von BREAKFAST AT TIFFANY‘S bis zu den Kinks – eine Leidenschaft, die sie von ihrer Grossmutter (Rita Tushingham) eingepflanzt bekam. Als sie in die London Fashion School aufgenommen wird, darf sie auch alle Schallplatten von Oma mitnehmen. Ihre liebevolle Großmutter ist die Erzieherin, denn Eloises Mutter ist vor langer Zeit in London verschwunden – damals ebenfalls in der Absicht, Modedesignerin zu werden.

Nachdem sie schon bei ihrer Ankunft im hippen London vom Taxifahrer auf unangenehme Weise angemacht wird, entwickelt sich das Leben im Studentenheim für sie geradezu zur Tortur. Ihre Zimmerpartnerin Jocasta (Synnove Karlsen) macht sich öffentlich lustig über das Landei Eloise. Und die permanenten Parties der Modegirls und -boys entsprechen so gar nicht ihrem Selbstverständnis eines Fashion-Designer-Studiums. Sie sucht sich ein neues Zimmer und wird im Dachstock einer älteren Dame (Diana Rigg) fündig. Ein perfekter Rückzugsort, scheint es. Und plötzlich erlebt Eloise inspirierende und beglückende Nächte in Soho. Auf einmal ist sie nämlich eine wunderschöne Sixties-Lady mit hochtoupierten Haaren, einem leuchtend roten Babydoll-Kleidchen und großen Ambitionen, Sängerin zu werden. Allerdings agiert sie nicht als Eloise, sondern als deren Spiegelbild: Sandie (Anya Taylor Joy). Das inszeniert Wright wunderschön in aufwändigen Szenen in den völlig verspiegelten Varietéclubs. Sandie ist im Club, Eloise ihr Spiegelbild. Sandie tanzt mit einem Mann und im Fluss der Tanzbewegungen ist immer wieder Eloise dessen Partnerin. Die Spiegelung ist der Wunschtraum, das Aufgehobensein in der Sixties-Welt, das Eintauchen. Die Spiegelung wird aber auch die Realität der Zeit zutage fördern.

So wird eine Parallelwelt eingeführt, die später auch Menschen in die andere Zeitebene katapultiert. Vorerst jedoch ist Sandie vollends begeistert von, ja verliebt in den coolen Teddyboy und Clubmanager Jack (Matt Smith), der sie nicht nur vor einem aufdringlichen Geschäftsherrn gerettet hat, sondern ihr auch eine Karriere als Sängerin verspricht. Diese nächtlichen Eskapaden beschwingen Eloise – sie beginnt auch in der realen Welt aufzublühen, wird auch mit ihren Sixties-Designs in der Modefachklasse von der Lehrerin (RT) gelobt. Nur für den schwarzen Jungen in der Klasse, John (Michael Ajao), hat sie kaum Augen – er wird sich später als fürsorglicher „Schatten“ herausstellen.

Ab der dritten Nacht wandelt sich der Traum von der Sängerin in einen Alptraum. In ihrer ersten Performance vor Publikum singt Sandie „Puppet on a String“ (den Eurovisions-Gewinnersong ’67 von Sandie Shaw) in einem großen Club – aber unter den lüsternen Augen eines ausschließlich männlichen Publikums. Danach fordert Jack Sandie auf, mit einflussreichen alten Herren Champagner zu trinken und ins Bett zu gehen. Der Horror beginnt, auch für Eloise. Die dunkle Wahrheit weiblicher Stars in den Sechzigern, die dunklen Seiten des Frauseins überhaupt, brechen sich Bahn. Zwangssex, Gewalt, Vergewaltigungen. Bis in die Gegenwart verfolgt Sandies Sixties-Horror Eloise, mit einer Geisterarmee alter Männer, einem geheimnisvollen alten Stalker (Terence Stamp) und weiteren beängstigenden Erlebnissen, von denen sich Eloise auch nicht mit Hilfe der Polizei oder ihren Recherchen über die mordgetränkte Vergangenheit Sohos lösen kann. Harvey Weinsteins Ahnen werden zu Gruselgestalten und verwandeln den luftigen Teenagerfilm in einen Horrorfilm.

Wright springt mit LAST NIGHT IN SOHO allerdings nicht einfach auf den #MeToo-Zug auf, sondern entwickelte die Filmidee bereits 2007 und pitchte sie 2013. Allerdings nahm die Finanzierung erst mit der Weinstein-Affäre richtig Fahrt auf. Wright will jedoch nicht die Geschichte der Sechziger neu schreiben, wie das konservative Kräfte gern tun, sondern einfach relativieren, bzw. die Geschichte des Sexismus hinzufügen. „Ich kritisiere die Sechziger nicht, ich temperiere ein bisschen ihre Romantisierung“, gibt er der französischen Filmzeitschrift „Premiere“ zu Protokoll.

Denn auf der anderen Seite des gelungenen, süßen Horrorfilms steht die wunderbare Verwendung der großen Britpop-Songs abseits der Beat-Musik. Das wären nicht nur „Puppet on a String“ (Sandie Shaw, für Sexismus) und „Downtown“ (Petula Clark, für Soho), sondern auch „There’s a Ghost in my House“ (R. Dean Taylor, bezieht sich auf Sandies Absteige) und natürlich der große Schmachtfetzen „Eloise“ (Barry Ryan117). Da wären aber auch die selbstbestimmten, coolen Sixties-Ikonen Diana Rigg (MIT SCHIRM, CHARME UND MELONE) und Rita Tushingham (die British New Wave-Muse, THE KNACK … AND HOW TO GET IT), sowie Terence Stamp, einem weiteren prägenden Gesicht der Swinging Sixties in England (MODESTY BLAISE). Unsere Protagonistin Eloise bleibt jedenfalls ihrer Sixties inspirierten Mode treu – aber sie codiert sie neu.

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Last Night in Soho, UK 2021 | Regie: Edgar Wright | Drehbuch: Edgar Wright, Krysty Wilson-Cairns | Kamera: Chung-Hoon Chung | Musik: Steven Price | Darsteller: Thomasin McKenzie, Anya Taylor Joy, Matt Smith, Michael Ajao, Rita Tushingham, Diana Rigg, Terence Stamp u.a. | Laufzeit: 117 min.