Italienische ProgRock-Bands - und ihre Filmmusik. 2. Teil

Italienische ProgRock-Bands – und ihre Filmmusik. 2. Teil

Von Michael Kathe

Goblin war nicht die einzige italienische ProgRock-Band, die in den Siebzigern mit der lebendigen italienischen Filmszene ins Bett stieg. Allerdings blieb es bei den anderen Bands meist bei einem One Night Stand. Doch auch dabei entstand teilweise Großes. Im Folgenden wird es jedoch vor allem auch darum gehen, dass die Bands mit ihren Musikalben oft Großartiges zustande gebracht haben.

Wir sollten nicht vergessen: Progressive Rock brachte eine neue Qualität in Soundtracks, weil es den Bands an Vielfalt und Offenheit nicht mangelte. Damit ist nicht einzig das Glockenspielartige, Naive gemeint, das in Filmen wie PROFONDO ROSSO oder SUSPIRIA an Kindheitstraumata des Mörders erinnerte. ProgRock mit seiner großen Bandbreite an Instrumenten, musikalischer Dynamik und Komplexität gelang es, innere Konflikte oder offene Spannungen der Protagonisten auf moderne Art nachvollziehbar zu machen.

ProgRock entwickelte sich aus dem immer psychedelischer werdenden Pop der Swinging Sixties und so passte es, dass Mario Bava in den Abspann seines stylishen Whodunits FIVE DOLLS FOR AN AUGUST MOON (1970) einen Sixtiessong einbaute, in dem der neue Trend bereits stark anklang. „Ti risveglierai con me“ der Band Il Balletto di Bronzo war einen Donnerschlag von einem Song, der den Blutnächten der dekadenten Oberschicht den passenden Soundtrack zwischen Style und Gewalt lieferte. Der Song stammte vom ersten Album „Sirio 2222“ (1970) der neapolitanischen Band, das noch deutlich von ihrer psychedelischen Herkunft, gemischt mit frühem Hardrock, geprägt war.

Ihr Gespür für Dramaturgie war zwar schon hörbar, doch richtig progig wurden sie erst mit ihrem Nachfolgealbum „Ys“ (1972), dem leider kein Erfolg beschieden war – was zur Auflösung der Band führte. Und was überaus bedauernswert war, denn „Ys“ ist mitunter eins der fantastischsten Alben der italienischen ProgRock-Szene. Wer sich in „Ys“ hineinbegibt, landet in einem Mellotron-Wunderland, das seine Hörer in Planetensysteme katapultiert, in die noch nie ein Musikprojekt vorgedrungen ist. Hypnotisch, komplex, alpträumerisch und abgespaced. Am ehesten vergleichbar mit den frühen King Crimson – und doch ganz anders. Ein Must für Progressive-Rock-Aficionados.

Das besondere Verdienst, zumindest zwei italienische Filme mit einem Prog-Soundtrack veredelt zu haben, kommt dem großen argentinischen Filmkomponisten Luis Enriquez Bacalov zu. Bacalov komponierte von 1963 bis 2014 die Musik zu über 160 Filmen mit einer Range von DJANGO bis IL POSTINO, von Soundtracks für Jess Franco und Ruggero Deodato bis Elio Petri oder Federico Fellini (STADT DER FRAUEN). Bacalov hatte die Idee, ein klassisches „Concerto Grosso“ der italienischen Barockmusik aufzunehmen, deren Soloparts von einer Rockband gespielt wurden. Die erfolgreiche Pop- bzw. Beatband New Trolls aus Genua erhielt von Bacalov die Chance, musikalisches Neuland zu erobern.

Das gelang der Band auch. Für die New Trolls markierte das Album den bedeutendsten Wendepunkt in ihrer Geschichte – hin zu progressiven Klängen. Und mehr noch: „Concerto grosso per i New Trolls“ (1971) wurde mit über 800’000 verkauften Alben zum kommerziellen Erfolg für die Band und gilt vielen nicht nur als bestes New Trolls Album, sondern auch als Meisterwerk des (Prog-)Genres. Eine frühe Version der Aufnahmen wurde als Filmmusik in Maurizio Lucidis exzellentem Thriller DER TODESENGEL (LA VITTIMA DESIGNATA, 1971) eingesetzt. Wer sich das Album allerdings anhört, wird zwar über Strecken mit einem ProgRock-Klassik-Mix belohnt, der sich locker mit den besten Stellen von The Nice’s „Five Bridges Suite“ (1970) messen kann, dem ersten Klassikorchester-Rockband-Melangealbum – doch vor allem auf der ersten Seite des Albums serviert uns Bacalov dann doch The Sound of Filmmusik mit überaus pathetisch-kitschigen Elementen (die als Filmmusik ihre Wirkung natürlich nicht verfehlen und in denen man sich gern suhlt). Erst auf der zweiten LP-Seite sorgt ein 20minütiges Stück so richtig für eine proggige, komplexe Mischung aus Klassik und Rock. Wie dem auch sei, das erste „Concerto grosso per i New Trolls“ gilt als eine der bedeutendsten Rockveröffentlichungen der italienischen Musikgeschichte.

Musikalisch richtig vielseitig haben die New Trolls erst im Jahr danach losgelegt mit ihren beiden Alben „Searching for Land“ und „UT“ (beide 1972). Das Doppelalbum „Searching for Land“ hat sehr viele ruhige Passagen, ist sehr vielseitig instrumentiert, mit teils hypnotischen Wiederholungen, um an gewissen Stellen Led-Zeppelinmäßig-eruptiv auszubrechen. Das Rockige kommt auf der zweiten Platte des „Searching“-Doppelalbums, einer Liveaufnahme, noch stärker zur Geltung. Was sich abzeichnete: Die beiden Bandleader Vittorio De Scalzi und Nico Di Palo drängten in zwei verschiedene musikalische Richtungen – doch vor der Trennung in die softe Progband New Troll Atomic System und die rockigeren Ibis nahm die Band noch „UT“ auf, ein weiteres gutes Album, das zwischen Prog, Folk und Rock hin und her lavierte. Beide Alben, wie auch spätere nach der Reunion 1976 (zu der sie ein zweites „Concerto Grosso“-Album mit Bacalov hinlegten), sind durchaus gute Alben, leiden aber darunter, keine klare Richtung zu haben und von eher zurückhaltendem Innovationsgeist beseelt zu sein.

Auch der italienische Regisseur Fernando di Leo war begeistert von Bacalovs erster Zusammenarbeit mit den New Trolls und wünschte sich ein ähnliches Experiment für seinen Film MILANO KALIBER 9 (1972): Eine Prog-Rock-Band mit Orchester und klassischer Musik zu vermählen. Und Bacalov fand Osanna, eine weitere außergewöhnlich gute Band aus Neapel, die dank ihren theatralischen Auftritten passenderweise gleich nach Veröffentlichung ihres Debütalbums „L’Uomo“ (1971) in Italien das Vorprogramm von Genesis bestreiten durften und schnell großen Eindruck in der italienischen Musikszene hinterließ. Schon auf „L’Uomo“ musste sich Bacalov erschlossen haben, dass er mit Osanna nicht eine San-Remo-Musikfestival-geschulte Popband-goes-Progressive an der Angel hatte, sondern mit einer viel roher aufspielenden, experimentierfreudigen Truppe zusammen arbeiten würde. Teile auf „L’Uomo“ klingen wie Jethro Tull, wechseln zu Synthesizergedudel, kompakten Rockriffs, spacigen Instrumentalteppichen, Gewalteinsätzen wie King Crimson – und immer wieder Hendrixgitarre und IanAndersonflöte. Ein richtig gutes Debütalbum.

Osanna waren dem Projekt sehr zugetan. An der Idee mit Bacalovs Orchester für Di Leos Film den Soundtrack zu machen, schätzten Osanna die neue Art, zu musizieren und zu komponieren. Nicht einfach nur, um mit Bacalov und einem großen Orchester eigene und fremde Kompositionen einzuüben, sondern – gemäß einem Interview mit Sänger Lino Vairetti – die Musik auch aufzunehmen, während der Film projiziert wurde, auch mit eigenen Improvisationen. Die ersten beiden Songs des Albums „Preludio“ und „Tema“ hatte Bacalov komponiert. Sie klingen trotz interessanten Gitarrensounds und modernen Beats, als wären sie dem klassisch-filmischen „Concerto grosso“-Soundtrack entstiegen. Bei den folgenden sieben „Variazone“ handelt es sich um Kompositionen der Band (von Bacalov orchestriert). Da geht’s dann ab: Nebst komplexen Beats, harten Riffs, folkiger Versponnenheit, vielen stilistischen Wechseln gibt’s auch überraschende Soundeffekte und Klänge, Stimmexperimente, Synthesizergeräusche. Erst zum Abschluss folgt nochmal etwas sehr Romantisches von Bacalav: „There will be time“. „Milano Kaliber 9“ wirkt wie eine noch weit entfernte, roughe Vorstufe zu ihrem folgenden Album, dem Meisterwek „Palepoli“ (1972).

„Palepoli“ ist selbst bei ProgRock-Standards irrwitzig: Osanna machen damit die Vergangenheit zur Zukunft. „Palepoli“ besteht aus drei Songs. Einer dauert nicht ganz 2 Minuten, die anderen je rund 20 Minuten. Jeder der langen Songs ist eine irre Verknüpfung von extrem kurzen Songteilen; ein Erlebnis, vergleichbar mit dem ersten Visionieren eines schnellgeschnittenen Hong-Kong-Films in den Achtzigern, aber musikalisch natürlich eine ganz andere Geschichte erzählend. „Palepoli“ wechselt zwischen Ethnosdrums und Flöten, Melodien, von sanfter Stimme und akustischer Gitarre vorgetragen, die in epische Intrumentalpassagen à la King Crimson münden, theatralisch anmutenden Zwischenstücken, sphärischem Mellotron, das im Nu von einem schnellen, aggressiven Gitarrenriff abgelöst wird, das wiederum nach kurzer Zeit von einer Flöte begleitet wird, um in eine computereske Synthiemelodie und pathetischen Soundteppich mit Freejazz-Saxofon zu münden. Und so weiter. Zu keiner Zeit hat man das Gefühl, dass ein musikalischer Teil irgendwo wieder aufgegriffen oder wiederholt wird. Wem das zu verrückt ist … fair enough. Trotzdem handelt es sich bei „Palepoli“ um ein Meisterwerk aus höheren Weihen, das so nur in den frühen Siebzigern entstehen konnte. Osanna reizten mit dem Album viele Möglichkeiten des Progressive Rock in extremis aus. Alle zwei Minuten eine neue Flutwelle Emotionen. Eine Art „Sergeant Pepper“ der frühen Siebziger, nur heute leider nahezu unbekannt. Thematisch dürften wir es mit einer Art archäologischer Schürfung in der Vergangenheit zu tun haben. Bedeutet doch das Wort Palepoli „vergangene Stadt“, mit dem die neapolitanische Band natürlich Bezug nahm auf ihre Herkunft, die „neue Stadt“ (Neo Polis).

Osannas Folgealbum „Landscape of Life“ (1974) ist vielleicht das letzte empfehlenswerte, kann meines Erachtens aber nicht mit den ersten drei mithalten. Im Vergleich handelt es sich um ein viel konventionelleres Rockalbum, das zwar mit „Il Castello dell’Es“ („Das Schloss des Es“) mit einem passenden, freudschen Progsong einsteigt, dann aber schon im Titelsong in eine sehr gefällige Stadion-Rockhymne übergeht (passend dazu Sänger Lino Vairetti, der praktisch dieselbe Stimme wie Klaus Meine hat – einfach mit perfektem Italienisch). So ganz aufgeben konnte die Band jedoch die langen, komplexen Songs (wie „Fog in my mind“) nicht ganz: Prog-Hardrock, wem’s gefällt.

Alles danach von Osanna ist nicht mehr der Rede wert. Nach der Auflösung wegen Meinungsverschiedenheiten formierte sich die Band in fast identischer Besetzung 1977 noch einmal und veröffentlichte ein Jahr darauf „Suddance“. Prog war nicht mehr Flavour of the Day, Osanna versuchten sich in anderen Stilen, vorzugsweise Jazz Rock, mit etwas funky Rhythmen und mit Melodien, die Saxophon- oder Gitarrensolos imitierten, oder aber Romantischem. (Offenbar nahm die Band „Neapolitan Power“, einen erfolgreichen Stil der frühen Achtziger in Italien, auf oder vorweg.)

War Osanna eine frühe ProgBand, gehörte Libra eher zu den Spätzündern. Gegründet 1974, veröffentlichten sie ihr erstes Album „Musica e Parole“ 1975. Im gleichen Jahr erschien das Album unter dem Namen „Libra“ bei Motown Records (!) in Englisch. ProgRock wurde von Libra bereits anders interpretiert, wenn es sich in ihrer Musik überhaupt noch um ProgRock handelte: „Nato oggi“(„Born today“) ist ein zweiteiliges, 16minütiges Stück mit vielen Tempiwechseln, das musikalisch jedoch genauso viel Jazzrock und Funk zelebriert wie symphonischen Prog à la Premiata Forneria Marconi. Jazzrock, Funkrhythmen und sehr viel US-Mainstream-Rock setzen sich in den folgenden Songs fort. Libra sind bestimmt eine Band des Übergangs mit einer spielerischen, fröhlichen Farbpalette aus diversen 70ties Sounds. Ein zuversichtliches Album, mit dem sie berühmt werden und den US-Markt knacken wollten. Tatsächlich verschaffte ihnen ihr Debütalbum einen 10 Alben-Vertrag mit Motown in den USA. Den großen Erfolg schafften sie zwar nicht, tourten jedoch mit Frank Zappa, den Tubes, Chicago und Steppenwolf.

Deshalb wurden aus den 10 großen Motown-Erfolgsalben nur 2 erfolglose, nach denen sie die USA Richtung Italien verließen. Ihr zweites Werk, „Winter Day’s Nightmare“ (1976) hatte in etwa so wenig mit Progressive Rock zu tun wie Claudio Simonettis Italo-Disco-Ausflüge, ist aber eine überaus abwechslungsreiche AOR-Rockplatte (AOR steht für „Adult Oriented Rock“, die etwas rockige Mainstreammusik, die in den USA der siebziger Jahre erfolgreich v.a. die Albumcharts bevölkerte). Dass Libra aber nicht einfach eine Band sind, die man in die Prog-Schublade steckte, zeigt ihr letztes Album.

Die Band löste sich nach der Produktion von „Winter Day’s Nightmare“ und einem Streit mit dem Manager auf und reformierte sich in Italien wieder. Inzwischen waren zwei Mitglieder von Goblin dazugestoßen, Walter Martino (bereits in den USA) und Maurizio Guarini, die sich natürlich eigneten, zusammen mit den erfolglosen Top-Musikern für Mario Bavas paranormalen Horrorfilm SHOCK den Soundtrack zu schreiben und aufzunehmen. Gelungen ist ein stark an Progressive-Rock- und Prä-Gothic-Mustern orientierter Soundtrack, der seine Wirkung auf musikalisch vielfältige Weise entfaltet. „Shock“ ist ein exzellenter und durchaus origineller Horrorsoundtrack, der auf ganz andere Weise noch einmal das Können von Libra zeigt und vielen ProgRock-Versatzstücken das Überleben im Horrorgenre sicherte.

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