Der Mörder kam um Mitternacht

Der Mörder kam um Mitternacht

Von Peter Clasen

Thriller: Fuhrunternehmer Ancelin (Lino Ventura) will den perfekten Mord begehen – am Mörder seiner Frau! Er glaubt, an alles gedacht zu haben, nur mit dem Taxifahrer vor dem Haus hat er nicht gerechnet. Eine Schrecksekunde zu spät entscheidet Ancelin, dass der mögliche Zeuge sterben soll. Sein Name ist Lambert (Franco Fabrizi), er arbeitet für die Firma Radio-Taxi und ist gerade in die süße Funkzentralen-Telefonistin Liliane (Sandra Milo) verliebt. Ancelin nimmt die Verfolgung auf…

Pierre Boileau und Thomas Narcejac schrieben schon die Romanvorlagen für Kinomeisterwerke wie DIE TEUFLISCHEN (LES DIABOLIQUES, Frankreich 1955, R: Henri-Georges Clouzot) oder AUS DEM REICH DER TOTEN (VERTIGO, USA 1958, R: Alfred Hitchcock). Wieso DER MÖRDER KAM UM MITTERNACHT weitgehend in Vergessenheit geriet, ist mir ein Rätsel. Der ungewöhnliche, großartige Vertreter des Euro-Noir verstört gleich ab dem ersten Bild. Ohne zuviel zu verraten: Wie ein Mörder sein Entrée durch einen anderen Mörder erhält, wie er moralisch zu ihm in Beziehung gesetzt wird, das ist schon recht makaber. In einer modernen Killer-Serie wie DEXTER (USA 2006 ff., mit Michael C. Hall) gehören derlei Spiegelungen zum guten Ton; Ähnliches in einem Unterhaltungsfilm aus dem Jahre 1959 zu sehen, darauf war ich nicht gefasst, schon gar nicht, da Publikumsliebling Lino Ventura der Star ist. Aber es hilft nichts: Als Ancelin wird er zur Mordmaschine, er ächzt, er schwitzt, er blutet und macht doch immer weiter…

Dabei ist sein eigentlicher Gegner nicht der Taxifahrer Lambert, sondern die Stadt Paris! Und weil die Geschichte an zwei Tagen und zwei Nächten spielt, ist es vor allem das nächtliche Paris aus nebligen Vorstadtstraßen, illuminierten Boulevards, Cafés und Bistros, Hotels und Absteigen, belebten Parkhäusern, verstopfter Métro, funkelnden Striplokalen und dunklen Parks. Es ist die Welt der einfachen Leute, die die Stadt am Laufen halten: Taxifahrer und Telefonistinnen, Gastwirte und Rezeptionistinnen, Polizisten und Türsteher, Nachtschwärmer aller Art, Huren und ihre Freier. Ancelin eckt überall an, er stört die unsichtbare Ordnung, verletzt die Seele der Stadt – bis Paris sich gegen ihn erhebt…

Der Verleiher der früheren deutschen Kinofassung scheint nicht verstanden zu haben, worum es eigentlich geht, er wollte den Film partout als harten Reißer verkaufen, nicht als EIN ZEUGE IN DER STADT, wie man den Originaltitel übersetzen könnte, sondern als DER MÖRDER KAM UM MITTERNACHT, und kürzte dafür viele Sprechszenen. Dabei schlägt gerade in diesen ganz alltäglichen, gutmütigen bis kecken Dialogen das Herz des Films (sie wurden nun untertitelt wieder eingefügt). Paris ist eben mehr als eindrucksvolle Architektur, es sind die wunderbaren Menschen – durchaus im Sinne des berühmten Fotografen Brassai. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Radio-Taxi zählen dazu, es hat die Firma tatsächlich gegeben.

Abgesehen davon, dass die Innensichten der Autos im Studio und vor Rückprojektionen gefilmt wurden, entstand der Film on location (in der IMDb sind die Drehorte penibel aufgelistet), was bei der damaligen Technik ungeheuer aufwendig gewesen sein muss. Das Ergebnis ist einer der schönsten Filme über Paris – nicht unbedingt das der Touristen, sondern das ihrer ganz normalen Bewohner.

Mit Namen wie Henri Decae (Kamera), Franco Fabrizi oder Sandra Milo wären wir jetzt schnell bei Jean-Luc Godard und Federico Fellini, aber ich bleibe lieber bei Édouard Molinaro. Dass der Regisseur späterer Millionenerfolge wie DIE FILZLAUS (L‘EMMERDEUR, F/I 1973, mit Lino Ventura) und EIN KÄFIG VOLLER NARREN (LA CAGE AUX FOLLES, F/I 1978) mal einen rasanten, bösen Thriller wie DER MÖRDER KAM UM MITTERNACHT drehte, hätte ich nie von ihm vermutet, und wahrscheinich geht das auch vielen anderen so. Hätte der Regisseur Jean-Pierre Melville, Robert Enrico oder Costa-Gavras geheißen, wäre das bestimmt völlig anders. Édouard Molinaro ist wohl doch etwas mehr als der talentierte Handwerker, als der er heute gilt; man sollte sich seine frühen Werke etwas genauer ansehen.

Und anhören: Barney Wilen schrieb den stimmungsvollen Soundtrack für DER MÖRDER KAM UM MITTERNACHT im Cool-Jazz-Stil und spielte ihn mit anderen Größen wie Kenny Dorham und Kenny Clarke ein. Erinnerungen an den Krimiklassiker FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT (ASCENSEUR POUR L‘ÉCHAFAUD, F 1958, R: Louis Malle) werden wach, und das kommt nicht von ungefähr: Barney Wilen war am legendären Miles-Davis-Soundtrack beteiligt. Gibt es eine bessere Empfehlung für DER MÖRDER KAM UM MITTERNACHT?!

Der Film erschien unlängst bei Pidax als deutsche DVD. Als Bonus: eine Bildergalerie und das leicht verkleinerte Faksimile eines damaligen Filmprogrammhefts. In Frankreich ist sogar eine Blu-ray greifbar.

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Un témoin dans la ville, Frankreich / Italien 1959 | R: Édouard Molinaro | DB: Édouard Molinaro, Gérard Oury und Alain Poivre | K: Henri Decae | M: Barney Wilen | D: Lino Ventura, Franco Fabrizi, Sandro Milo, Jacques Berthier | Laufzeit: 86 Min.

Anbieter: Pidax