Border

Border

Von Oliver Schäfer

„Ich bin hässlich.“
„Du bist perfekt“

Die vierzigjährige Tina (Eva Melnder, DIE BRÜCKE), die aufgrund eines Gendefekts ein sehr grobes Gesicht und eine plumpe Gestalt hat, arbeitet in einem schwedischen Fährhafen für den Zoll. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes einen Riecher für Schmuggler, denn sie kann Angst, Scham oder Wut riechen, so dass sie bei Durchsuchungen eine unerreicht hohe Trefferquote hat.Privat lebt sie zurückgezogen im Haus ihres inzwischen in einem Pflegeheim lebenden Vaters. Mit ihrem parasitären Mitbewohner, dem Hundetrainer Roland (Jörgen Thorsson, WALLANDER), verbindet sie eine platonische Beziehung, auch wenn sie gelegentlich seine sexuellen Avancen abwehren muss. Dass Tina von ihm eigentlich nur ausgenutzt wird, blendet sie bewusst aus.

Sie ist außerdem sehr naturverbunden und die meisten Tiere des Waldes begegnen ihr ungewöhnlich zutraulich. Eines Tages lässt sie einen Mann durchsuchen, der ein ähnlich grobschlächtiges Aussehen hat wie sie selbst. Schmuggelware wird bei ihm nicht gefunden, allerdings teilt ihr ein Kollege nach einer Leibesvisitation mit, dass der Mann keine männlichen Geschlechtsorgane hat. Tina entschuldigt sich bei dem Mann, der sich als Vore (Eero Milonoff – DEADWIND) vorstellt und ihr mitteilt, dass er sich in der örtliche Jugendherberge einquartieren wird. Kurze Zeit später sucht Tina die Jugendherberge auf, beide kommen ins Gespräch und Tina entscheidet impulsiv, dem praktisch unbekannten Mann, der aber so viel Ähnlichkeit mit ihr selbst hat, eine kleine, auf ihrem Grundstück gelegene Hütte als Unterkunft zu vermieten. Der geheimnisvolle Mieter scheint ebenso naturverbunden zu sein, hat aber offensichtlich auch einige Geheimnisse, die Tinas Neugier wecken. Außerdem scheint er mit einer polizeilichen Ermittlung zu einem Pädophilenring in Verbindung zu stehen, an der auch Tina beteiligt ist. Als sie ihn deshalb zur Rede stellt, erhält sie teils überraschende, teils schockierende Antworten auf Fragen, die sie sich zum Teil schon ihr Leben lang gestellt hat und die ihr nun eine folgenschwere Entscheidung abverlangen.

Basierend auf einer Geschichte von John Ajvide Lindqvist, dem Autor von SO FINSTER DIE NACHT, liefert Regisseur Ali Abbasi (SHELLEY) hier eine ziemlich ungewöhnliche Mischung aus Nordic Noir, surrealer Romanze und hintergründigem Märchen, die ihre vielen Facetten erst nach und nach offenbart. Lindqvist Romane handeln oft von Außenseitern oder Personen, die nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen und hinter deren Fassade sich allerhand überraschende Dinge verbergen.

So darf schon der Filmtitel durchaus mehrdeutig verstanden werden, bezieht er sich doch nicht nur auf die von Tina bewachte Grenze, sondern auch auf die Grenze zwischen menschlich und nicht menschlich, Wünschen und Pflichten oder einfach richtig und falsch. Auch ihr Leben grenzt sich ab, in den sich in farblosen und sterilen Räumen abspielendem Alltag und ihre Ausflüge in die Natur, die der erstklassige DP Nadim Carlsen in satten Farben und träumerischen Sequenzen eingefangen hat.

Trotz einiger Schichten Latex gelingen insbesondere Eva Melander, aber auch Eero Milonoff wunderbar nuancierte Darstellungen dieser ungewöhnlichen Charaktere. Bemerkenswert, wie Melanders Spiel beim Zuschauer schnell Sympathien entstehen und das nach gängigen Maßstäben wenig ansprechende Aussehen ihrer Figur in den Hintergrund treten lässt. Die freizügigeren Sequenzen dürften beiden Darstellern auch einiges an Mut abgefordert haben.

Einen interessanten Effekt erzielt Regisseur Abbadi durch einfaches Weglassen. So wird Tinas Aussehen im ersten Drittel des Films nicht ein einziges Mal thematisiert. Weder wird sie darauf angesprochen, noch werfen die an ihr vorbeilaufenden Menschen ihr schräge Blicke zu – alles Dinge, die man als Zuschauer im normalen Leben erwarten würde und die durch ihr Weglassen zu einer eigenartigen Spannung führen.

Abbasi schreckt nicht vor Szenen zurück, die durchaus bei manchem Zuschauer an die Grenzen des guten Geschmacks gehen dürften. Dabei sind diese Szenen keinesfalls plumper Selbstzweck, sondern sorgen für ein tieferes Verständnis der Figuren…und für mindestens eine handfeste Überraschung. David Cronenberg dürfte sein Vergnügen an diesem Film haben.

Der in Schweden lebende Iraner Ali Abbasi hat hier einen exzentrischen, berührenden, seltsam menschlichen Film geliefert, der gespickt ist mit skurrilen Details und unerwarteten Wendungen. Dabei lassen sich die klugen sozialen Untertöne und die deutliche Sympathie für Außenseiter problemlos auf die aktuelle politische Weltlage übertragen. Sein größter Verdienst ist aber, eine potentiell derart lächerliche Geschichte so ernsthaft und gekonnt auf die Leinwand zu bringen, dass sich jeder Gedanke an die grundsätzliche Absurdität des Ganzen im Nu verflüchtigt.

Lange hat mich kein Film mehr so überrascht wie dieser.

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Gräns | Schweden 2018 | Regie: Ali Abbasi | Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, Sten Ljunggren, Ann Petren, Viktor Äkerblom, Rakel Wärmänder u.a.

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