Selma

Selma

Von Shamway

Der gängige Mythos zu Martin Luther King ist folgender: Er war ein liebenswerter Priester mit einem Traum und hat mit friedfertigen politischen Aktionen den Kampf um die Bürgerrechte der Afroamerikaner relativ erfolgreich erfochten. Das ist alles enorm wichtig und richtig, liefert aber keine spannenden Filmstoffe. Spannend wird der Geschichtsunterricht erst, wenn wir ihn mit Regisseurin Ava DuVernays Augen sehen. Sie zeigt uns einen Ausschnitt in Kings Wirken: den Kampf um das Wahlrecht in der Stadt Selma.

In dieser Kleinstadt im Bundesstaat Alabama kämpfte die SNCC (Students Nonviolent Coordinating Committee) für die Wählerregistrierung von Afroamerikanern. Trotz des Civil Rights Act von 1964 waren die bürokratischen Hürden für Schwarze in vielen Orten in den Südstaaten so hoch, dass es faktisch unmöglich war, an das Wahlrecht zu kommen. So musste man zum Beispiel einen Weißen kennen, der für einen bürgte. In einer segregierten Gesellschaft in einer kleinen Südstaatenortschaft beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Zu alledem ging der damalige Sheriff Jim Clark (Stan Houston) vehement und nicht gerade zimperlich gegen alle vor, die sich für das Wahlrecht einsetzten. In diese schwierige Konstellation begibt sich nun Martin Luther King (David Oyelovo) mit seinem Team rund um Ralph Abernathy und Diane Nash und will sie mit seiner Strategie aufbrechen.

Mit dem Wort Strategie wird‘s interessant: MLK ist nämlich keineswegs der naive Priester, der mit Reden und Märschen die Welt zu einer besseren gemacht hat, sondern er ist ein teilweise riskant kalkulierender Politiker, der Menschenleben aufs Spiel setzte, um die Emanzipation der Afroamerikaner zu erreichen. Nicht leichtfertig, aber im Bewusstsein, dass immer etwas geschehen kann – was bei den Rednecks im Süden nicht wirklich verwundert.

Nach der Strategie „verhandeln, demonstrieren, sich widersetzen“ versucht er zuerst, seine Ziele auf höchster Ebene, bei Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson), auszubedingen. Da wird‘s dann nochmal spannender: SELMA zeigt auch die Überlegungen und Gespräche des US-Präsidenten und seiner Mitarbeiter, zuvorderst des berüchtigten FBI-Bosses J. Edgar Hoover (Dylan Baker). Während Johnson anfangs ein gutes Verhältnis zu King pflegte und ihn als gewaltfreien Schutzschirm vor radikaleren Bürgerrechtlern wie Malcolm X sah, wollte Hoover King vehement bekämpfen. Man einigte sich darauf, den schwelenden Unfrieden in die Beziehung zwischen King und seiner Frau Coretta Scott King (Carmen Ejogo) zu verstärken.

Der Film zeigt die Story um die Kleinstadt Selma und die drei berühmten Märsche von Selma nach Montgomery 1965 aus unauffällig wechselnden Perspektiven. Als FBI-Bericht, aus privater Sicht Kings, aus Sicht betroffener Privatpersonen, aber auch aus Sicht von Bürgermeister Clark (der die mobile Anti-Bürgerrechtspatrouille aus Ku-Klux-Klan-Mitgliedern rekrutierte) oder dem berüchtigten rassistischen, demokratischen Gouverneur Alabamas, George Wallace (Eric Roth). Wem das alles zu technokratisch klingt (und MLK denkt und handelt in vielen Szenen auch so), der wird den emotionalen Höhepunkt umso mehr schätzen beim zweiten Marsch, als Martin Luther King plötzlich zenmäßig intuitiv beeindruckt. Überhaupt agiert David Oyelovo überaus überzeugend: In seine Reden bringt er unglaublich gute Pausen und dramatisches Pathos, als Denker agiert er spitz und flink, aber nicht überheblich (wie man sich MLK eben vorstellt), als Privatperson ist er verunsichert und hin- und hergerissen zwischen Ehe und Beruf.

Dass der Film von 2014 in der Trump-Ära wieder eine gewisse Aktualität aufweist, ist natürlich unbeabsichtigt. Die republikanische Partei unternimmt vor allem im Süden der USA zur Zeit alles, um Wahlbezirke so umzuzonen, dass Weiße ihre Mehrheiten erhalten können, schwarze Arbeiterfamilien können teilweise nur in weit entfernten Wahlorten und an Arbeitstagen ihre Stimme abgeben, etc. – ähnlich wie vor 50 Jahren.

___________________________________________________________________

Selma | USA 2014 | Regie: Ava DuVernay | Drehbuch: Paul Webb | Darsteller: David Oyelowo, Tom Wilkinson, Carmen Ejogo, André Holland, Dylan Baker, Tim Roth, Oprah Winfrey, Stan Houston u.v.m. | Laufzeit: 128 min.