Das Messer am Ufer
Von Christopher Klaese
Wenn RIVER’S EDGE eines nicht ist, dann ein Horrorfilm im üblichen Sinne – dass die geschilderte Lebenswirklichkeit der Figuren dennoch blanker Horror ist, bringt das Leben in dieser Welt mit sich. Den ‚gewollten‘ deutschen Verleihtitel sollte man auch gleich vergessen. Und RIVER’S EDGE macht keinen ‚Spaß‘ – jeder, der bei heutiger Betrachtung sich speziell zu Beginn am etwas schrägen 80ies-Outfit schmunzelnd delektiert, versucht dadurch lediglich Distanz aufzubauen, da sonst sofort klar würde, wie sehr der Film nach wie vor am Puls der Zeit ist.
Der wortkarge Außenseiter Samson (Daniel Roebuck) offenbart seinen Freunden, einer Clique von High-School-Teenagern, er habe die gemeinsame Bekannte Jamie (Danyi Deats) ermordet. Er prahlt mit der Tat, die seine Freunde zuerst für einen Scherz halten. Samson überzeugt sie, indem er sie zur Leiche am Ufer des reißenden Flusses führt. Layne (Crispin Glover) schlägt vor, die Angelegenheit geheim zu halten, während Matt (Keanu Reeves), Clarissa (Ione Skye), Maggie (Roxana Zal) und Tony (Josh Richman) die Tat anzeigen wollen. Schließlich meldet einer der Teenager den Mord der Polizei und es stellt sich heraus, dass Matts jüngerer Bruder Tim (Joshua John Miller) die Tat beobachtet hat. Als Layne und Samson versuchen, den Eremiten Feck (Dennis Hopper) zum Mitwisser der Vertuschung zu machen, erfüllt sich das Schicksal aller am Fluss, der keine Wiederkehr zu kennen scheint.
Aus der Traum … so schienen viele im Amerika der frühen 1980er zu fühlen. Immerwährendes Wachstum und ewiger Aufbruch wichen einer ungewissen Zukunft und lethargischen Gleichgültigkeit. Während John Milius‘ RED DAWN (1984) versuchte, den amerikanischen Jugendlichen die Deutungshoheit über die eigene Existenz durch einen Feind ‚von außen‘ zuzuschanzen – und damit dem reagan’schen Ideal des mehr oder minder souveränen Säbelrasselns entsprach – schlug Tim Hunters RIVER’S EDGE andere, kontemplativere und bei aller dröhnenden Massivität der mitunter schwermetallischen Rockmusik wesentlich leisere Töne an. Die Figurenzeichnung unterschied sich in ihrer alle betreffenden Ambivalenz von den damals gängigen Stereotypen und Klischees und zeigte somit, abseits gängiger Hollywood-Teeniekomödien der damaligen Zeit, wohin sich die Jugend jenseits der Traumfabriken und behüteten Vorortvillen entwickelt hatte. Auch eine, zwar in sich stimmige, jedoch für die damalige Jugend eher zur Weltflucht geeignete Erfolgsgeschichte wie DIRTY DANCING (1987) versuchte, dem ansonsten eher trostlosen Grau-in-Grau der Normalität eine retrospektive Zukunftshoffnung anzubieten.
Wo JAMIE MARKS IS DEAD (2012) später einen übersinnlichen Ansatz wählte, ging die von Neal Jimenez auf wahren Ereignissen basierende Geschichte tief hinein in die irdischen Abgründe der Provinz. Der unverstellte Nihilismus der Protagonisten verband sich zusammen mit den Schilderungen hochgradig dysfunktionaler Familienstrukturen zu einem Fanal gegen die entmenschlichte Gesellschaft, zeigte auf, welche Irrwege die sich selbst überlassene Jugend beschritt, um ihrer eigenen Verlorenheit einen Sinn zu verleihen. Die mit der Verpflichtung Dennis Hoppers höchst selbstreferentiell gestaltete Kausalkette, an der sich RIVER’S EDGE problemlos in eine Reihe mit DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN (1955) und EASY RIDER (1969) einreihen konnte, tat ihr Übriges dazu bei, dass man dem Film seine gesellschaftliche Relevanz, verpackt in eine nur pro forma abgespulte Krimihandlung, ohne weiteres abnahm. Auch die restlichen Schauspieler, zum großen Teil Neulinge, die sich später noch hochdekorierte Meriten und merkantil erfolgreiche Rollen erobern sollten, faszinierten durch ihre Natürlichkeit; sie scheinen die Charaktere nicht zu ‚spielen‘, sondern sie ‚sind‘ sie.
Nicht zuletzt die handwerkliche Gestaltung zeigte die Seelenzustände der Jugendlichen auf. Das grieselige Schwarzweiß des Vorspanns unterschied sich zunächst kaum vom Look des restlichen Filmes, der braunschlammige Fluss mit seinem reißenden Gang konnte als Allegorie auf den steten Ausbruchswunsch der Clique gedeutet werden. Die sphärischen Synthieklänge des deutschen Komponisten Jürgen Knieper – der gar den jedem Vorabendfernsehzuschauer bekannten Streichertusch aus seiner LINDENSTRASSE-Titelmusik unterbrachte – verdichteten gekonnt die Atmosphäre und Gefühlswelt der Heranwachsenden zwischen den diversen, szenisch motivierten Hardrockcues. Dass nie eine CD-Veröffentlichung des Soundtracks erfolgte, ist in Zeiten von LP-Revival und Wiederentdeckung der guten, alten Audiokassette vielleicht ein Schicksalswink; nur auf diesen beiden Medien ist die Musik bisher erschienen.
Camera Obscura veröffentlichte den Film vor einiger Zeit im luxuriösen Mediabook, wobei die auf 2000 Stück limitierte Edition sowohl eine Blu-ray- als auch eine DVD-Version beinhaltet. Der Filmtransfer präsentiert sich hervorragend remastert, die deutsche Synchronisation ist ebenso wie der englische Originalton in bester Qualität wiedergegeben. Die Extras fallen üppig aus, wobei der Audiokommentar von Regisseur Tim Hunter kenntnisreich geraten ist und viele Hintergründe der Produktion offenbart. Die exklusiv für diesen Release produzierten Featurettes „Livin‘ on the Edge“ mit dem erdigen, sehr sympathischen und rundweg ehrlichen Darsteller Daniel Roebuck und „Under the Bridge“ mit Kameramann Frederick Elmes liefern interessante Einblicke in die Entstehungsgeschichte und die intime Wirkung der Dreharbeiten auf die direkt daran Beteiligten. Der englische und deutsche Trailer sowie eine umfangreiche Fotogalerie flankieren die Interviews. Abschließender Bonus ist ein im zwölfseitigen Buchteil enthaltenes Essay von Prof. Dr. Marcus Stiglegger, der in seinen sehr persönlichen Erinnerungen die verschiedenen Wirkungsebenen des Filmes dezidiert beleuchtet.
Dass der Zuschauer auch Jahrzehnte nach Entstehung gebannt auf RIVER’S EDGE blicken kann, liegt an seiner Genauigkeit und geradezu enervierenden Realitätsnähe – mitunter hat man das Gefühl, weniger einem Spielfilm als einer Dokumentation zuzusehen. Für die Jugend des Jahres 1986 war der Film eine regelrechte Offenbarung, fühlten sie sich und ihre Probleme doch endlich ernst genommen. Wie wenig sich seitdem verändert hat, wie sehr die mahnenden Gedanken aktuell geblieben sind, spricht gegen unsere Gesellschaft – und für RIVER’S EDGE. Wir müssen unsere Kinder lieben, sie uns wichtig sein lassen, ihnen die ‚richtigen‘ Werte vermitteln – eine gemeinsame Sichtung von RIVER’S EDGE kann da ein guter Anfang sein.
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River’s Edge | US 1986 | Regie: Tim Hunter | Darsteller: Crispin Glover, Keanu Reeves, Ione Skye, Daniel Roebuck, Dennis Hopper, Joshua John Miller u.a.
Anbieter: Camera Obscura
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