Glass
Von Oliver Schäfer
Vorweg gesagt, sollte man UNBREAKABLE und SPLIT gesehen haben, bevor man sich für GLASS in den Kinosessel lümmelt. Und der geneigte Leser sei gewarnt, dass dieser Text einige Spoiler enthält.
GLASS beginnt dort, wo SPLIT endete: Kevin Wendell Crumb (James McAvoy) und seine weiteren 23 Persönlichkeiten der „Horde“ laufen weiter frei herum. Als „Dennis“ hat er erneut 3 junge Mädchen verschleppt und alle 23 warten auf die Ankunft der „Bestie“, jener übermenschlichen Persönlichkeit, die sich in SPLIT den finalen Kampf mit Casey Cooke (Anya Taylor-Joy) geliefert hat.
David Dunn (Bruce Willis), der einzige Überlebende des Eastrail 177 Unglücks und unverwundbare Superheld aus UNBREAKABLE, dessen Überraschungsauftritt in SPLIT überhaupt erst die Verbindung zwischen beiden Filmen herstellte, hat die vergangenen 19 Jahre Kriminelle gejagt. Unterstützt wird er dabei von seinem Sohn Joseph (Spencer Treat Clark), der die Gegenden aussucht, in denen Dunn seine nächtlichen Patrouillen absolviert.
Als Dunn die Spur der „Horde“ aufnimmt, kommt es zu einem Kampf zwischen ihm und der „Bestie“, der ein überraschendes Ende nimmt. Beide finden sich wieder im Raven Hill Memorial Psychiatric Research Center unter der Aufsicht von Dr. Ellie Staple (Sarah Paulson – BIRD BOX), die auch den seit den Ereignissen aus UNBREAKABLE dort unter Beruhigungsmitteln vor sich hin vegetierenden Elijah Price (Samuel L. Jackson) betreut, auch bekannt als „Mr. Glass“.
Dr. Staples Behandlung soll die drei „Superhelden“ davon überzeugen, dass deren vermeintliche Superkräfte lediglich Ausdruck ihrer psychischen Erkrankungen sind. Doch sie hat ihre Rechnung gemacht, ohne den überragenden Intellekt von Elijah Price zu berücksichtigen.
Spätestens seit THE VILLAGE ist Shyamalan ein Regisseur, dessen Filme ein sehr geteiltes Echo hervorrufen, besonders durch seine Angewohnheit, seine Geschichten am Ende durch einen Twist auf den Kopf zu stellen.
Seine Karriere hat einige Höhen und Tiefen erlebt und die Qualität seiner Filme schwankte von gut bis brillant (UNBREAKABLE, THE SIXTH SENSE, SIGNS, SPLIT), ansehbar und unterhaltsam (THE VILLAGE, THE VISIT) und schräg bis katastrophal (THE LADY IN THE WATER, THE HAPPENING, THE LAST AIRBENDER, AFTER EARTH).
Wie die meisten seiner Filme ist auch GLASS ein paar Minuten zu lang, er nimmt sich trotz humoriger Szenen zu ernst, ist stellenweise albern und mancher Dialog ist recht platt geraten. Der Endkampf wird einen Teil der Zuschauer enttäuschen und Sam Jacksons Meta-Kommentare zum Thema Superhelden und ihrer Entsprechung im klassischen Comic ein wenig luftig erscheinen, auch wenn Mr. Glass mitunter überraschende Parallelen zu Jacksons „Nick Fury“ aus den Marvel-Verfilmungen aufweist.
Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz hat Shyamalan hier einen riskanten, grandiosen, meine Erwartungen gleichzeitig übertreffenden und unterlaufenden Thriller als Finale einer unerwarteten Trilogie abgeliefert.
Sentimental wie ich bin, hat Shyamalan schon bei SPLIT mein Herz schneller schlagen lassen, als er in den letzten Minuten einige Akkorde von James Newton Howards exzellentem UNBREAKABLE-Score erklingen ließ, wenige Sekunden bevor Bruce Willis ins Bild kam. In GLASS nutzt der Regisseur neben der eher sounddesignartigen Musik von Ford Dylan Thordsen auch wieder einige Passagen aus Newton Howards Score. Zudem hat er – genial und herzergreifend zugleich – auch einige entfallene Szenen und eine der Schlüsselszenen aus UNBREAKABLE in seinen neuen Film integriert.
Die Geschichte wird von gut choreographierten Actionszenen eingerahmt, die mit sparsamen, aber dafür umso echter wirkenden Effekten ausgestattet sind. Die meisten Wendungen der Geschichte sind clever konstruiert und Shyamalan kann sich voll und ganz auf seine exzellenten Darsteller verlassen, auch wenn ich kritisch anmerken muss, dass ich mir mehr Szenen sowohl mit Bruce Willis als auch mit Anya Taylor-Joy gewünscht hätte. Willis Darstellung von David Dunn – für mich eine der besten Rollen seiner Karriere – funktioniert nahtlos trotz der mittlerweile vergangenen 19 Jahre. Nach wie vor wirkt er, als ob er noch immer nicht glauben kann, dass er unverwundbar ist. Auch Spencer Treat Clark liefert eine schöne Darstellung als Joseph Dunn ab, der schon als Kind die Fähigkeiten seines Vaters erkannt hatte.
Jackson ist Jackson, ebenso fanatisch, brillant und durchtrieben wie vor 19 Jahren. Sarah Paulson hat eine relativ passive Rolle, die aber ziemlich interessant in Szene gesetzt wurde. Taylor-Joy kommt etwas zu kurz, hat aber im Finale einen starken Auftritt. Das Highlight ist hier natürlich James McAvoy, der quasi auf Knopfdruck mit erstaunlicher Subtilität und Wandlungsfähigkeit die Charaktere seiner 24 Persönlichkeiten wechselt, von denen wir in diesem Film noch mehr kennenlernen als bereits in SPLIT. Auch einige der Nebenrollen sind mit Luke Kirby (THE DEUCE) und Adam David Thompson (GODLESS) stark besetzt.
Großen Anteil am Gelingen des Films hat erneut DP Mike Gioulakis (IT FOLLOWS), dessen schräge Kamerawinkel, langsame Schwenks und hier und da genutzte GoPro-Blickwinkel durchaus der Optik eines Comics nachempfunden erscheinen. Viele Kleinigkeiten, wie z.B. die comictypische farbliche Zuordnung der Charaktere, erklärende Rückblenden, der typische Shyamalan-Kurzauftritt mit klugem Bezug auf beide Vorgängerfilme und viele weitere Details, machen den Film auch bei ein paar Längen durchgängig interessant. Dabei erweist sich Shaymalan durch den Aufbau seiner Szenen wieder einmal als Meister der Stimmung, ohne jedoch die Eleganz und Eindringlichkeit von UNBREAKABLE zu erreichen.
Shyamalan scheint außerdem ein Freund der EXORZIST-Reihe zu sein. Einer von Crumbs Charaktern beschwert sich darüber, dass die anderen ihn nicht mögen, weil er immer Filme spoilern würde – „dabei weiß doch jeder, dass der Exorzist am Ende stirbt“. Dr. Staple hat Crumbs Zelle mit einer Lichtanlage ausgestattet, die an den „Synchronisator“ aus EXORZIST 2 erinnert und das Setting im Hospital sowie manche Kamerafahrt erinnern an EXORZIST 3, in dem George C. Scott ähnlich viel herumphilosophiert wie Sam Jackson es hier tut.
GLASS ist ein faszinierender Film. Er trägt manchmal zu dick auf, tut das aber auf unvergleichlich stilvolle Weise. Er ist vielleicht final nicht befriedigend, steckt aber voller spannender Ideen und verdient schon aufgrund seiner Ambitionen Bewunderung, besonders angesichts der heute so gleichförmigen Landschaft an Blockbustern, die in Aufbau und Optik kaum mehr unterscheidbar sind. Er bietet drei Stars in Hochform und einen Regisseur, der sich für seine Drehbücher vielleicht mal einen Co-Autor gönnen sollte, dessen technische Brillanz jedoch ungebrochen ist.
Die Unverfrorenheit, einen in Comicfilmen heute üblichen und sich auch hier anbahnenden effektlastigen Höhepunkt einfach durch eine erheblich bescheidenere Version zu ersetzen, hat schon Bewunderung verdient. Da kämpfen David Dunn und das Biest Mann gegen Mann, während Mr. Glass in seinem Rollstuhl die möglichen Ausgänge anhand von bekannten Comicgeschichten vorherzusagen versucht. Was für eine Idee. Und der Mut, alle drei Protagonisten aufgrund ihrer jeweiligen Schwächen sterben zu lassen – insbesondere David Dunn, der in einer Wasserpfütze ertrinkt, nicht in einer massiven Flutwelle oder etwas ähnlich pompösem á la Marvel oder DC – führt die ganze Geschichte mit einem letzten Twist (der eigentlich gar keiner ist) zu einem logischen und pointierten Ende. Shyamalan hat sogar eine comictypische Geheimorganisation kreiert – und auch die hat er entgegen der üblichen Genreregeln einfach mal gegen den Strich gebürstet.
Shyamalan hat den Film mit rund 20 Millionen selbst finanziert. Und das ist sicher auch der Grund, warum er exakt diesen Film abliefern konnte, ohne dass er sich mit den Schergen eines Studios herumschlagen musste.
Und darüber bin ich ausgesprochen froh. Nicht perfekt, vielleicht auch nicht das perfekte Ende dieser Trilogie, aber voller Mut, Originalität und filmtechnischer Finesse.
UNBREAKABLE war seinerzeit ein mittelprächtiger Erfolg und bekam seinen heutigen Status als Shyamalans bester Film erst über die Jahre. Schaut man sich den allgemeinen Tenor der Kritiken an, so vermute ich, dass dieses Schicksal auch GLASS bevorsteht. Aber das macht nichts. Der Film hat so viele interessante Ideen und Wendungen, dass sich über Jahre trefflich darüber diskutieren lässt. Und welcher Film kann das heute schon von sich behaupten?
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Glass, USA/China 2019 | Regie: M. Night Shyamalan | Drehbuch: M. Night Shyamalan | Musik: West Dylan Thordson | Kamera: Mike Gioulakis | Schnitt: Luke Ciarrocchi, Blu Murray | Darsteller: James McAvoy, Bruce Willis, Samuel L. Jackson, Anya Taylor-Joy, Sarah Paulson, Spencer Treat Clark, Charlayne Woodard, Luke Kirby, Adam David Thompson, M. Night Shyamalan, Russell Posner | Laufzeit: ca. 129 Min.
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