Nordische Filmtage 2016

Nordische Filmtage 2016

Von Friederike Grabitz

Dreißig frierende Menschen in Steppjacken stehen seit zwanzig Minuten im Freibad an. Das Badewärter-Häuschen am Stadtsee ist längst abgebaut, die einzigen, die unter dem stahlgrauen Himmel noch schwimmen, sind Enten. Endlich ist Einlass. Die Steppjackenmenschen verschwinden in einem orangegelben Riesen-Iglu, das zwischen Wasser und Altstadthäusern aussieht wie ein Fremdkörper aus einer anderen Galaxie. Drinnen Liegestühle, oben eine kuppelförmige Leinwand. Es wird ein Film gezeigt, ausgerechnet einer aus der Kälte der arktischen Eiswüsten, über die Kultur der Sami. Für die meisten Besucher ist es das erste Mal in einem 360-Grad-Kino.

Das Rundum-Kino im Altstadtbad ist einer der neuen, ungewöhnlichen Filmorte auf dem größten Filmfestival für die nordeuropäischen Länder, den Nordischen Filmtagen in Lübeck. Das Festival fand Anfang November schon zum 58. Mal statt und ist mit nun 32.000 verkauften Kinokarten für 185 Filme in 250 Vorführungen weiter gewachsen.

Les-SauteursIm Programm sind Filme aus Skandinavien, Norddeutschland und dem Baltikum. Typisch zum Beispiel der Eröffnungsfilm ROSEMARI, der mit starken Frauenfiguren die Suche eines einstigen Findelkindes nach seinen Eltern erzählt. Wenig überraschend gibt es diesmal einen inhaltlichen Schwerpunkt auf Geschichten von Flucht und Migration, wie der gerade im Kino angelaufene dänische Film LES SAUTEURS, der die Realität eines am afrikanischen Grenzzaun gestrandeten Flüchtlings zeigt, oder die Dokumentation ALLES GUT von Pia Lenz über das langsame Ankommen zweier Kinder in einem Hamburger Flüchtlingsheim. Ein weiterer Schwerpunkt waren Geschichten aus der Provinz: Der preisgekrönte Debutfilm HERZSTEIN erzählt von einer Jungenfreundschaft und dem Anderssein im ländlichen Island. VON BANANENBÄUMEN TRÄUMEN dokumentiert die Geschichte eines norddeutschen Dorfes, das sich mit seinem einzigen Kapital vor dem wirtschaftlichen Exodus rettet – mit viel Kreativität und tierischen Exkrementen. Und ARCTIC SUPERSTAR handelt von einem Sami-Halbstarken, der in seiner Muttersprache rappt und konsequent an eine Karriere als Superstar glaubt.

Inhaltlich wurde das Programm um das Format „Serien“ erweitert. MODUS – DER MÖRDER IN UNS ist ein Beispiel aus den renommierten schwedischen Krimi-Werkstätten, in einer Koproduktion mit dem ZDF aufwändig produziert. Die Serie NOBEL – FRIEDEN UM JEDEN PREIS über den Militäreinsatz in Afghanistan und diplomatische Verstrickungen in Oslo ist in ihrem Herkunftsland Norwegen gerade hoch im Kurs und wurde schon in 200 Länder verkauft.

Der-Mann-der-75-Sprachen-konnteIn den letzten Jahren wurden hier immer wieder Filme gezeigt, die ganz großes Kino waren, aber trotzdem nach einer Festivaltour fast spurlos im Nirgendwo versickerten. Sie geben eine Ahnung davon, wie wenig von dem, was die Filmproduktion leistet, am Ende ein Publikum findet. Mit etwas Pech könnte einer dieser Filme DER MANN, DER 75 SPRACHEN KONNTE sein, ein einstündiger Hybrid aus Märchen und Dokumentation. Der teilanimierte Film erzählt das Leben des bei uns fast unbekannten Linguisten Georg Sauerwein, der im 19. Jahrhundert Völkerverständigung als Friedensarbeit betrieb. Die internationale Koproduktion erzählt eine wichtige und noch unbekannte Geschichte mit ganz eigenen Mitteln, lässt sich aber schwer vermarkten, weil sie zu kurz fürs Kino und wohl zu lang fürs Fernsehen ist. Schade, dass die konventionellen Formate viele Filmstoffe in ein Korsett zwängen, das der Geschichte allzu oft nicht wirklich gut tut, weil sie entweder zu lang oder zu knapp erzählt werden muss.

Neben großen Publikumsfilmen wie MAGNUS, DER MOZART DES SCHACHS, WAS MÄNNER SONST NICHT ZEIGEN, WIR SIND DIE FLUT oder der FLORENCE FOSTER JENKINS STORY hatten auch Nischenfilme eine Chance, sich zu beweisen. Insgesamt acht Preise wurden auf dem Festival vergeben. Die Stadt, die mit den hanseatischen Kaufmannshäusern selbst wie eine Filmkulisse wirkt, war bevölkert von Cineasten. Optisch prägten sie mit dezentem Chic und einer Dosis Extravaganz das Straßenbild, und in den Cafés waren fünf Tage lang alle nordischen Sprachen zu hören. Jetzt sind sie abgereist. Es bleiben die Filmbilder: Changierend zwischen leuchtenden Farben und verwaschenem Schnee, an den Rändern leicht unscharf, überlappen sie sich, beweglich wie Blätter auf einer Wasserfläche, Träume aus vielen Welten und vielen Provinzen.