The Lamb

The Lamb

Von Adrian Gmelch

Valdimar Jóhannssons Film LAMB, der auf dem Cannes Filmfestival 2021 in der Sektion Un certain regard lief, hat eine unheimlich originelle Prämisse, die den Film jedoch nicht so richtig trägt, denn die Geschichte kann sich nicht entscheiden, ob sie Horror sein möchte oder nicht. Erst das Ende rückt den Film wieder in ein besseres Licht.

Unter Schafen

Das Bauernpaar María (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) lebt auf einer entlegenen Farm inmitten isländischer Gebirge. Im Laufe des Films wird klar, dass beide in der Vergangenheit eine Tochter verloren haben und dieser still nachtrauern. Doch sie sind vielbeschäftigt, da sie sich um eine große Schafherde kümmern müssen, die ihnen einiges abverlangt. Immer wieder werden Nahaufnahmen der Schafe gezeigt, ständig hört man es ins Bild meckern. Ganz wohl ist den Schafen auch nicht, denn eines Nachts sucht sie irgendetwas heim, was dem Zuschauer jedoch verborgen bleibt. Eine bedrohliche Atmosphäre macht sich auf dem Bauernhof breit, die das Paar jedoch nicht mitzubekommen scheint. Als die Schafe anfangen, ihre Lämmer zu werfen – einige beeindruckende Aufnahmen von Geburten lassen den Stadtzuschauer erstaunt zurück –, stehen Maria und Ingvar ihnen bei. Ein Lamm, bei dessen Geburt sie helfen, ist jedoch äußerst sonderbar: Es ist halb Mensch, halb Schaf (gelungene Spezialeffekte bringen den Zwitter für den Zuschauer überzeugend zum Leben). Das Paar entschließt sich, das „Kind“ zu behalten und abseits der Schafsmutter aufzuziehen. Nach und nach wächst es heran und sie taufen es Ada, als Erinnerung an ihre verstorbene Tochter. Die Kreatur bringt neues Glück ins Leben der beiden. Die Schafsmutter hingegen scheint ihr Kleines zu vermissen, denn immer wieder schleicht sie sich aus dem Stall vor die Fenster des Hauses und fängt an, zu meckern. María platzt eines Nachts der Kragen und sie erschießt das Schaf. In derselben Nacht taucht Ingvars Bruder auf – und von da an verkomplizieren sich die Dinge …

Welches Opfer bringt das Lamm?

Der Titel des Films deutet es bereits an. Die Frage, die sich der Zuschauer durchgehend stellt, lautet: Wo oder was ist das Opfer? In zahlreichen Religionen dient das Lamm nämlich als Opfertier, gerade im Christentum ist es ein Symbol für das Opfer durch den stellvertretenden Kreuzestod Jesu Christi. Diese Opferdynamik treibt den Film an und tatsächlich vergisst María, die Ada als ein Geschenk Gottes sieht, etwas Essentielles in ihrer Gleichung. Um die leibliche Mutter hat sie sich gekümmert – und sie schließlich getötet –, doch sie verschwendet auch nicht einen einzigen Gedanken daran, wer der Vater der Chimäre sein könnte (und das sei hier übrigens nicht verraten, denn die Auflösung dieser Frage ist die eigentliche Stärke des Films.)! Vielleicht begreift María die Schafsmutter als eine Art von Maria, die ohne physische männliche Hilfe geschwängert wurde. Darauf würde auch ihr Vorname hindeuten. Jedenfalls verkalkuliert sie sich gewaltig!

LAMB wartet mit einigen originellen Ideen auf und kann auch ein paar sehr stimmige Bilder erzeugen (die grandiosen Landschaften Islands machen das vergleichsweise leicht). Auch das andauernde Filmen der Schafe bzw. der Katze und des Hundes des Paares hat so seine irritierenden Momente. Doch alles in allem fehlt es dem Film an Atmosphäre, was daran liegt, dass sich Valdimar Jóhannsson einfach nicht entscheiden kann, ob er jetzt einen Arthouse-Horrorfilm à la A24 drehen möchte oder nicht. Das Resultat wirkt manchmal fast wie eine (unfreiwillige) Parodie der Horrorfilme von Ari Aster (HEREDITARY) oder Robert Eggers (THE WITCH). Übrigens lassen die vielen Aufnahmen der Böcke in LAMB an Black Philip, den schwarzen Kult-Ziegenbock aus eben Eggers THE WITCH denken – und der Zuschauer wird wieder daran erinnert, was für ein grandioses Horrormärchen dieser Film doch war. Erst das erstaunliche Ende von LAMB kann die Schwächen des Films wieder einigermaßen ausbügeln und wartet mit der einen oder anderen Überraschung auf. Und spätestens dann versteht die weinende María, dass alles immer auch eine Frage des Gebens und Nehmens ist …

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Adrian Gmelch ist Autor des Filmbuches „Die Neuerfindung des M. Night Shyamalan“ (Büchner, 2021) und beschäftigt sich vor allem mit dem Horrorgenre im Film.

Lamb | Island 2021 | Regie: Valdimar Jóhannsson | Drehbuch: Valdimar Jóhannsson, Sjón| Kamera: Eli Arenson | Musik: Þórarinn Guðnason | Darsteller: Noomi Rapace, Hilmir Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson, Ingvar Eggert Sigurðsson u.a. | Laufzeit: 106 Min.