Die 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin 2020

Die 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin 2020

Von Peter Clasen

Die riesigen Cinestar-Kinos unter dem SONY-Center, lange Zeit einige der wichtigsten Spielstätten der Berlinale: allesamt dicht, selbst das IMAX-Kino hat zu. Die große Shoppingmall „Arkaden“, sonst Hauptadresse hungriger Filmfreunde: fast komplett geschlossen. In vielen Gebäuden nebenan und gegenüber dasselbe: abgeklebte Fenster, letzte Grüße an die einstige Kundschaft. Selbst Macdonalds und Starbucks sind verschwunden. Im Jahre 2000 zog die Berlinale mit viel Tamtam vom Westen in den ehemaligen Osten, an den neu gestalteten Potsdamer Platz, mit vielen tollen, neuen Kinos und riesiger, überdachter Kauf- und Fressmeile. Jetzt, nur 20 Jahre später, scheint alles nichtig, die Investoren suchen angestrengt nach Möglichkeiten der Neuvermarktung…

Ganz neu ist schon die politisch korrekte Doppelspitze der Berlinale aus weiblicher Inländerin und männlichem Ausländer, die Zeit der Partybären ist definitiv vorbei. Vorbei ist auch die Zeit des Schutzheiligen Dr. Alfred Bauer, Gründer und langjähriger Leiter der Berlinale, sogar ein Filmpreis trägt seinen Namen. Nach immerhin 75 Jahren, in denen man sich mal hätte schlau machen können, wurde nun bekannt, dass Bauer ein hohes Tier in der Nazi-Filmpolitik war. Extrem bedauerlich für die Berlinale, doch mit einer solchen Vokabel würde man sich nur selbst verdächtig machen, daher „begrüßt“ man mit aller Entschiedenheit – und ohne jedwedes Bedauern – die beginnenden Ermittlungen. Soll ich Alfred Bauers Grundlagenbände „Deutscher Spielfilm-Almanach 1+2“ nun in die braune Tonne werfen? Aber nein, das war nur eine rhetorische Frage.

Wie das Gestern noch bis heute wirkt, sollte das „Forum des Jungen Films“ aufzeigen, das das Gesamtprogramm des allerersten Forums von 1971 wiederholte, darunter Rosa von Praunheims revolutionäres Werk NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT. Als alter, weißer Mann kenn’ ich den aber ganz gut und stürz mich lieber auf die Aktualitäten.

Vento_SecoZum Beispiel VENTO SECO (DRY WIND), eine schwule Dreiecksgeschichte aus Brasilien, erzählt mit einer Selbstverständlichkeit, die sich 1971 noch niemand hätte träumen lassen. Regisseur Daniel Nolasco entwirft zuerst die Sexszenen, das eigentliche Drehbuch fügt sich dann. Trotzdem ist seine Geschichte klug, kunstvoll – und korrekt: Die queere Gemeinde seiner Heimatprovinz war in den Film involviert, das Geld wurde bewilligt, noch bevor Präsident Bolsonaro gewählt wurde.

Suk SukSUK SUK (Regie: Ray Yeung) hieß eine Romanze zweier schwuler Senioren in Hongkong. Doch da in China die Familie über allem steht, bleibt die Selbstbefreiung für Taxifahrer Pak und Rentner Hoi schwierig. Pak ist verheiratet und geht heimlich fremd, Hoi wohnt mit seinem Sohn zusammen und möchte vor ihm nicht sein Gesicht verlieren… Was sich bis ins Publikumsgespräch fortsetzte: Wenn einer der Darsteller gleich im ersten Satz betonen muß, daß er gar nicht schwul sei, sondern das alles nur gespielt habe, dann braucht man über gesellschaftlichen Druck eigentlich gar nicht mehr zu reden.

Auch Zuschauer können sich outen: Beim autobiografischen, behutsam erzählten Kinderfilm LOS LOBOS (R: Samuel Kishi Leopo) über zwei kleine Mexikaner, die mit ihrer Mutter in die USA hinüberwechseln, wurde gefragt, ob die Kinder echt gewesen seien. Das kann man putzig finden – oder als Argument für mehr Medienpädagogik an Schulen werten. Man hätte auch gegenfragen können, ob Iron-Man wirklich tot ist… Großer Preis der internationalen Jury!

WelcomeToChechnyaWeiteres Beispiel: Die erschütternde Doku WELCOME TO CHECHNYA (R: David France), prämiert mit dem Amnesty International Filmpreis und vier Activist Awards der Teddy-Jury, kreist um eine politische Abartigkeit sondergleichen: Seit 2017 jagt, interniert und foltert die tschetschenische Polizei Schwule und Lesben, inzwischen beteiligen sich sogar Angehörige und Bürger benachbarter Länder an der Hatz. Manche der hunderten von Opfern wie der Popstar Zelim Bakaev bleiben „verschwunden“. Ein Retterteam versucht Verfolgte außer Landes zu bringen, u.a. wird eine komplette Familie evakuiert, das Ziel ist natürlich geheim. Frage aus dem Publikum: „Welches Land ist das denn?“

Nix kapiert hatten auch jene Zuschauer, die zu Dutzenden (ungelogen!) aus dem Psychodrama SURGE flohen. Die „Überspannung“ darf man wörtlich nehmen: Ben Wishaw, der „Nette“ des britischen Kinos (und Q bei 007), spielt einen dauergestressten Personenkontrolleur, der durchknallt und zur seelischen Karambolagefahrt durch London ansetzt… Wishaw leistet eine phänomenale, in Sundance preisgekrönte Tour de Force (mit Parallelen zu FALLING DOWN und JOKER), aber deutsche Zuschauer müssen ja alles erklärt kriegen, und das passiert erst ganz am Ende. Kleiner Hinweis: Es berührt eines der letzten Tabus… Leider war Regisseur Aneil Karia nicht zugegen, das hätte spannend werden können…

SpeerInHollywoodAuch Vanessa Lapa, Regisseurin der Doku SPEER GOES TO HOLLYWOOD, hatte leider keine Zeit für ein Q & A. Schade, schade… Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt und Organisationsgenie, war als Rüstungsminister zuständig für sieben Millionen Zwangsarbeiter, darunter 450.000 KZ-Häftlinge, er hätte die unmenschlichen Lagerbedingungen also kennen müssen, windet sich im Nachhinein aber munter heraus. Um 1971 herum sollte er der Star eines Kinofilms werden, Andrew Birkin (DER NAME DER ROSE) sollte das Drehbuch schreiben, der legendäre Carol Reed (DER DRITTE MANN) die Regie führen. Die auf Cassetten überlieferten Gespräche zwischen Speer und Birkin werden leider neu eingesprochen, Speers gewaltiges Manipulationstalent wird dennoch deutlich. Reed durchschaut Speer, die Paramount cancelt den Film. Dieses Whitewashing blieb uns erspart.

Sweet_ThingEin phänomenaler, sogenannter Kinderfilm: SWEET THING (R: Alexandre Rockwell) erzählt vom „Familien- und Ferienabenteuer“ dreier Kinder – eine Reise durch ein kaputtes Amerika, Eltern und andere Erwachsene sind Egoisten, Alkoholiker, Schläger, Vergewaltiger… Kinder, seid auf der Hut, scheint der Film sagen zu wollen, aber habt keine Angst und wehrt euch! Pädagogisch wertvoll, aber ohne aufgesetzte Moral, sondern poetisch, witzig, spielerisch, voller Verrückheiten – so lebhaft wie das körnige Schwarzweißmaterial, auf dem der Echtfilm gedreht wurde. Prämiert mit dem Gläsernen Bären!

Ostatni_EtapDie beiden größten Entdeckungen: Hielt man Artur Brauners MORITURI (Deutschland 1948; R: Eugen York) vielleicht für die früheste Spielfilm-Aufarbeitung des Holocaust im Kino, wurden jetzt gleich zwei vergleichbare Werke wiederentdeckt und sogleich vorzüglich restauriert: OSTATNI ETAP bzw. THE LAST STAGE (Polen 1948) und DALEKÁ CESTA bzw. DISTANT JOURNEY (CSSR 1949). Beide Filme waren eine Offenbarung, kaum jemand wußte noch, wie nah das Kino einmal dem Grauen war. Wanda Jakubowska, Regisseurin von OSTATNI ETAP, sagte später, sie habe Auschwitz nur überleben können, weil sie unbedingt diesen Film drehen wollte. Auch viele Crew-Mitglieder und Darsteller sind ehemalige Lagerhäftlinge – Wut und Verzweiflung sind authentisch. Gedreht wurde direkt in Auschwitz – gespenstischer geht es nicht. Anders als spätere KZ-Filme (z.B. Steven Spielbergs SCHINDLERS LISTE) zeigt OSTATNI ETAP den Terror der Deutschen nicht als bürokratisch-exakte Todesmaschinerie, sondern als grotesken Killerspielplatz: Uniformierte Idioten jagen Internierte kreuz und quer in den Tod, während das Damen-Sinfonieorchester muntere Weisen anstimmt (und Todesschüsse mit bösen Blicken quittiert)… Noch eine Besonderheit: Der Film spielt im Frauenlager, ist also sehr wohl auch ein Frauenfilm, und die Haßfiguren sind mehrheitlich Frauen. Verstörend, aber Fakt: Wer das ikonografische Vorbild für ILSA: SHE-WOLF OF THE SS (USA 1975) sucht, wird hier fündig.

Caleka_CestaDALEKÁ CESTA vom genialen, aber früh entmutigten Alfréd Radok, ist ein großes politisches Kunstwerk, das aufzeigt, wie mit immer weiter verschärften Rassegesetzen die Vernichtung der Juden vorbereitet wurde, und das die Frage beantwortet, wieso so viele sich nicht dagegen auflehnten, eben weil sie sich der Hoffnung hingaben, ganz so schlimm werde es schon nicht kommen. Wie tragisch falsch das war, macht Radok von Anbeginn klar: Ein fulminanter Bolero des Todes treibt die Menschen aus ihren Ehen, Familien und Städten, hinein ins Ghetto und in die Lager, am Ende aber auch in den Aufstand… Die Prager Regierung ließ den Film damals schon nach einer Woche aus den Kinos verschwinden, der politische Wind hatte sich gedreht… OSTATNI ETAP und DALEKÁ CESTA, zwei vergessene bzw. unterdrückte Filme, die man unbedingt sehen sollte.

Ach ja, die Retrospektive: Wie meinte doch der berühmte, viele Einführungen haltende Filmhistoriker Kevin Brownlow über SHOW PEOPLE (1928)? „Simply Heaven!“ Und das gilt für die ganze Retro, bei der man immer wieder darüber staunen konnte, wie viele wagemutige, ja tollkühne Filme Regisseur King Vidor dem System Hollywood abtrotzte – z.B. das Blues-und-Gospel-Musical HALLELUJAH (1929) mit rein schwarzer Besetzung (MGM wusste sehr wohl, dass damit im Süden kein Geschäft zu machen war), oder THE WEDDING NIGHT (1935), der als romantische Komödie beginnt und in blankem Nihilismus endet, oder der Western MAN WITHOUR A STAR (MIT STAHLHARTER FAUST, 1955), wo Cowboy Kirk Douglas und Rancherin Jeanne Crain ihre Geschäftsbeziehung ganz ungeniert mit Sex besiegeln, dann der komplett durchgeknallte THR FOUNTAIN HEAD (EIN MANN WIE SPRENGSTOFF, 1949), in dem Architekt Gary Cooper seine Individualität und Integrität dadurch wahrt, dass er ganze Wohnblöcke in die Luft jagt, oder auch der hinlänglich bekannte WAR AND PEACE (KRIEG UND FRIEDEN, 1956), wo Vidors Faszination für das Thema der Straße, den Lebensweg, fast einen eigenen Film ergibt, nämlich über den qualvollen, verlustreichen Rückzug Napoleons aus Russland. Und und und…

AmericanRomanceNur sein größtes Unterfangen, das zweieinhalbstündige Epos AN AMERICAN ROMANCE (1944), das Vidor drei Jahre seines Lebens und MGM drei Millionen Dollar gekostet hatte, wollte damals kein Mensch sehen und war bis vor kurzem nur Die-Hard-Cineasten bekannt – es ist die pompöse, propagandistische Geschichte eines armseligen Migranten (wie einst Vidors ungarischer Großvater), der sich vom Bergarbeiter zum Autofabrikanten emporarbeitet, alle Söhne nach US-Präsidenten benennt und seiner Wahlheimat schließlich (nach Pearl Harbor) damit dient, viele, viele Bomber zu bauen (nur mit der segensreichen Erfindung der Gewerkschaften hadert er). Vidor in Reinkultur, ein Loblied des Stahls, aus dem die Staaten geschmiedet sind – nicht wirklich überzeugend, aber schön, dass wir das alles sehen durften.

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