Porn to be free

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Von Manuel Raval

In der Dokumentation PORN TO BE FREE Free von Carmine Amoroso (Originaltitel: PORNO & LIBERTA) kommen die Pioniere des italienischen Pornos zu Wort. Ilona Staller, in der Branche unter dem Namen „Cicciolina“ bekannt, Giuliana Gamba oder der 2012 verstorbene Riccardo Schicchi berichten von den Anfängen der Pornographie und ihrem Weg in die Gesellschaft. Im Hinblick auf die Bedeutung der Pornographie, ein aus dem Altgriechischen abgeleitetes Kunstwort, zusammengesetzt aus den Worten „Dirne“ und „schreiben“, finden sich bei den Protagonisten der Dokumentation ähnliche Interpretationen. So ist die sexuelle Revolution, der Wunsch des Menschen auf Selbstbestimmung, die den Körper einschließt, eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Normen. Pornographie ist die Kritik am bestehenden, am Etablierten, am Konservativen. Eine wirkmächtige Reaktion auf kirchliche Moralität und staatliche Zensur.

Die Pornographie steht den Frauen das Recht zu, selbstbestimmt zu leben. Frauen, die nach tradierter Auffassung als Verkörperung des Unbewussten der männlichen Sexualität herhalten müssen. Die von Moral und Diktat befreite Sexualität macht keine Unterschiede zwischen Geschlecht oder Herkunft, es ist eine universelle Form der Kommunikation, die über Begierde und Lust zum Ausdruck kommt, und die im Italien der 1970er von den Repräsentanten der etablierten Institutionen als Sünde interpretiert wird: der katholischen Kirche und ihrer Sexualmoral, dem Kommunismus und dem ihm eingeschriebenen Puritanismus und dem Staat, dessen Vertreter mit Repression drohen, wenn die Darstellung der Sexualität gegen geltendes Recht verstößt.

Cover PORN-21969 schaffte Dänemark als erstes Parlament die Zensur für Pornographie ab. Anders als bei den liberalen Dänen, die Heftchen erwerben können, in denen der Geschlechtsakt explizit gezeigt wurde, wird der Handel mit Pornographie im Rest Europas noch unter Strafe gestellt.
Sie alle haben nicht, so Lasse Braun, der sich ganz uneitel als Erfinder des Pornos betitelt, die Bedeutung der Pornographie verstanden. Er definiert seine Filme als Basis der Kunst – und als deren Voraussetzung. Seine Filme seien weder Saat noch Pflanze, sondern die gepflügte Erde, ohne die das Einbringen der Saat (des Samens) keinen Sinn ergebe. Braun wie auch andere stilisieren sich zu Vorreitern einer gesellschaftlichen Bewegung, die mit dem, was sie machten, gegen Zensur und bigotte Moralvorstellungen kämpften. „Sie alle haben damals“, so ist bei filmstarts.de zu lesen, „ihren Beitrag dazu geleistet, mit dem radikalen Einstehen für (sexuelle) Freiheit Kirche, Politik und Institutionen zu erschüttern und damit den Weg für ein fortschrittlicheres Denken zu ebnen.“

Es mag sein, dass sie einen Beitrag geleistet haben; ob es aber ihr Motiv war, wie sie es in den Interviews zu Protokoll geben, scheint zumindest fragwürdig. Bereits in den 1970er Jahren gab es in Italien doch eine Reihe von Möglichkeiten, an gesellschaftlichen Veränderungen mitzuwirken. Den Beruf des Pornodarstellers oder des Pornoregisseurs zu ergreifen, könnte auch andere Motive gehabt haben, als Kirche und Staat zu revolutionieren. Zumal sich in vielen Ländern der Welt die Pornographie entwickelt hat. Die Ursachen der Entstehung und Verbreitung von Pornographie in Italien zu generalisieren, wird der Vielfalt der Kulturen nicht gerecht. Zudem werden in der gut achtzigminütigen Dokumentation Sexualität und Pornografie nicht voneinander abgegrenzt, was aber notwendig wäre, um zu verstehen, wie das eine im anderen aufgeht, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und welchen Einfluss gesellschaftliche Entwicklungen auf das eine und das andere nehmen. Diese Aufgabe muss der Betrachter übernehmen, und die Interviews liefern reichlich Material.

Nichts, was im Bereich der Sexualität und der Pornografie beschrieben werden kann, läuft unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen. Alle Akteure haben biographische Erfahrungen gesammelt, die sich aus der Beschäftigung mit geltenden gesellschaftlichen Normen – einer herrschenden Sexualmoral, Freiheitsgraden in der Wahl seiner sexuellen Präferenzen, juristischen Tatbeständen und dem Grad der Toleranz und Akzeptanz ergeben speisen. Somit sind der Umgang mit Sexualität und das Ausleben sexueller Praktiken wie auch die Form und Bedeutung der Pornographie ein Indikator gesellschaftlicher Entwicklungen. Offenkundig ist, dass früher wie heute Staat und Kirche normative Grenzen ziehen – normativ im Sinne einer Bewertung von „gut“ und „schlecht“ (Kirche) und von „richtig und falsch“ (Staat). Die Folgen bei einem „Fehlverhalten“ haben sich allerdings im Laufe der letzten Jahrzehnte mit dem schwindenden Einfluss der Kirche und der Vielfalt von Lebensmodellen verändert. Anhand dieser Institutionen ließen sich die Begriffe Sexualität und Pornografie und deren Bedeutung wie auch Wirkung anschaulich beschreiben, was schließlich auch Thema der Dokumentation ist – aber ausbleibt. Weder die Kirche noch Repräsentanten des Staates, die die traditionellen Werte vertraten, kommen im Film zu Wort.

PORN 2Deutlich wird hingegen die zentrale Konfliktlinie, die sichtbar wird, wenn Sexualität und Pornographie im öffentlichen Diskurs auftauchen: Ein generalistisches Menschenbild, das von Vertretern der Institutionen definiert wird und festlegt, was erlaubt, sinnvoll und richtig ist, und auf der anderen Seite ein individualisiertes Menschenbild, das den Akteur in das Zentrum der Betrachtung rückt: Den mündigen Menschen, der für sich -und nur für sich- entscheidet, was für ihn oder sie erlaubt, sinnvoll und richtig ist. Die sexuelle Befreiung, die als Massenphänomen auch als sexuelle Revolution betitelt wurde, führte zu massiven Generationenkonflikten, zur Schärfung des Moralbegriffs und nicht zuletzt zur Entstehung von Utopien.

Eine jener Utopien bestand darin, dass jeder Mensch ein selbstbestimmtes, sexuelles Wesen ist, das sich die Freiheit nehmen kann, mit seinem Körper machen zu können, was es will. Zu entkleiden, zu benutzen oder auch zu verkaufen – nicht nur auf der Straße, sondern auch im Film; für den Menschen bezahlen, um sich zu befriedigen. Das rief zahlreiche Kritiker auf den Plan: Die Frauenbewegung, die in der Pornographie ein von Männern für Männer geschaffenes System der Repression sahen, in dem Frauen zu Objekten der Begierde degradiert werden. Die Linken, die die Pornographie als ein weiteres Instrument zur Ausbeutung und Akkumulation des Geldes von Herrschenden interpretierten, und schließlich: die Kirche, insbesondere die katholische, die mit einer rigiden Sexualmoral alles Lustvolle als Sünde brandmarkte.

Auch das zeigte die sexuelle Revolution: Den immens hohen Druck auf Andersdenkende und Anderslebende abseits des etablierten Konformismus. Und die Doppelmoral, denn die Sexualität ist in jeden Menschen eingeschrieben, wie auch das Bedürfnis, Bedürfnisse auszuleben.
In den Interviews fällt eines auf: Sie interpretieren Pornographie als Ästhetik des Alltags, als Rebellion gegen überkommene und beengende Moralvorstellungen, als Kritik an gesellschaftlichen Konventionen. Dem Betrachter erscheinen diese oft mit Pathos vorgetragenen Ausführungen mitunter als banale Ex-Post-Rationalisierung, so werden zwei Motive, die sicherlich auch bei der Berufswahl eine Rolle gespielt haben dürften, nicht gewürdigt: Geilheit und Geldverdienen.

So entsteht der Eindruck, die Etablierung der Pornographie sei ein politisches Instrument gewesen, um die staatliche Vormundschaft und die gesellschaftliche Moral zu brechen. Die Akteure hatten sich aber, schaut man sich ihre Biographien an, der Pornographie nicht zu diesem Zweck zugewandt: Sie waren weder vorher noch nachher politisch aktiv – mit Ausnahme von Ilona Staller, die einige Jahre Abgeordnete für die „Radicali Italiani“ im römischen Parlament wurde.

Die Frage, wie Sexualität und Pornographie zusammenhängen, ob der Mensch das eine wie das andere benötigt, um glücklich zu werden, und welche Reaktionen es auf den Seiten derer gab, die beides bekämpf(t)en, wird nicht thematisiert. So werden viele interessante Einzelaussagen und Stimmen in der Dokumentation nicht zusammengefügt – es bleiben Puzzleteile, aus dem Karton auf den Tisch geschüttet. In den Aussagen der Befragten wird der Wunsch nach Individualismus und Befreiung betont, und es wäre interessant zu erfahren, wie weit sie auf diesen Weg gekommen sind. Und wie sie das, was sie damals dachten und taten, heute bewerten.

PORN 01Die Unterscheidung zwischen Sexualität und Pornografie lässt sich, wenn auch nicht explizit thematisiert, aus dem bunten Strauß an Einzelaussagen rekonstruieren: Sexualität ist spontan, wild, ungesteuert, Pornografie hingegen ist Planung, Schauspiel, Kontrolle. Sexualität sind Flammen und Feuer, Pornografie ist das Bild von Feuer und Flammen. Sexualität ist befriedigend, Pornografie befriedigt.

Pornografie ist öffentlich dargestellte Sexualität. Hat es zur Liberalisierung eines Kulturkreises beigetragen? Sieht man die seit einigen Jahren aufkeimenden Diskussionen um Freiheit, Toleranz und Totalitarismus, scheint der Liberalismus zumindest kein Konzept, dass man, hat man es einmal erarbeitet, Bestand haben muss. Ob Pornographie gut oder böse ist, ist nicht die zentrale Frage. Auch nicht, ob es ein Indikator für den Liberalismus einer Kultur, einer Gesellschaft oder eines Staates ist. Entscheidend ist die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, und welchen Platz die Sexualität und die Pornographie in dieser Gesellschaft einnehmen soll: In Wort und Bild. Und in Gedanken.

Unverständlich bleibt auch, warum der Regisseur die eine oder andere Penetration in den Film hineinschneidet. Vielleicht ist es der bildhafte Versuch, die Aussagen der Befragten zu ergänzen. Gebraucht hätte die Dokumentation diese Sequenzen nicht. Eher Schlaglichter auf die politischen Debatten der 1970er Jahre, die Nacktheit als sichtbares Fanal, die Darstellung der Repression als Folge religiöser Doktrinen, die Organisation von Zusammenkünften mit Gleichgesinnten, um der staatlichen Repression mit Anarchie zu antworten. Auch wird weder die Kommerzialisierung der Sexualität thematisiert, noch die Ausbeutung von Frauen. So fehlt eine kritische Betrachtung und Einordung der Interviews: Wer die Gesellschaft verändern wollte oder eine Revolution plante, hatte in den 1970er Jahren viele Möglichkeiten – die Diskussionen über das, was eine gute Gesellschaft sein könnte, waren virulent. Pornodarsteller musste man dafür nicht unbedingt werden. Dennoch liefern die Originalaufnahmen und die Kommentare der Zeitzeugen einen Eindruck über das was war und den Weg zu dem geebnet hat, was wir mitunter heute als selbstverständlich empfinden.

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Porno & Libertà | Italien/USA 2016 | Regie: Carmine Amoroso

Anbieter: Donau Film