Was vom Tag übrig blieb

Was vom Tag übrig blieb

Von Michael Hille

„Ein guter Butler verfügt über Würde im Einklang mit seiner Position“, heißt es in einer Schlüsselszene von WAS VOM TAGE ÜBRIGBLIEB. In diesem Moment, irgendwann in den 1930er Jahren, sitzt das Personal des Landsitzes Darlington Hall zusammen bei Tisch. Am Kopfende spricht der den Ton angebende Butler James Stevens. Sein ganzes Lebensziel, so wird in dieser Szene sehr deutlich, ist die des Dieners. Alles was er tut, verfolgt die Ambition, seinem Arbeitgeber, den angesehen Lord Darlington nach besten Kräften zu versorgen. Mit am Tisch sitzt sein Vater Stevens Senior, der ebenfalls sein ganzes Leben lang gedient hat und seinem Sohn – ihre Dynamik zeigt es – nur diesen Wert vermitteln konnte: Immer die Würde wahren. Um jeden Preis.

Als später der Senior sehr krank wird und schließlich verstirbt, findet in Darlington Hall gerade eine wichtige politische Konferenz statt. Die Haushälterin Miss Kenton zieht Stevens zur Seite: „Es tut mir sehr leid. Ihr Vater ist vor vier Minuten von uns gegangen“, sagt sie mitfühlend. „Ich verstehe“, antwortet Stevens. Auf die Frage, ob er seinen toten Vater sehen möchte, meint er nur: „Ich habe im Moment sehr viel zu tun“ und „Mein Vater würde wünschen, dass ich mit meiner Arbeit fortfahre“. Die ganze Szene ist er nur im Dunkeln oder von hinten zu sehen. Selbst wenn Mr. Stevens hier für eine Sekunde eine Gefühlsregung gezeigt haben sollte: Die Kamera wahrt für ihn sein Gesicht.

Die vielfach preisgekrönte, gleichnamige Romanvorlage des japanisch-britischen Autors Kazuo Ishiguro ist ein Werk der Introspektive. Alle Erkenntnisse, alle Gedanken formulieren sich aus dem Inneren der Figuren heraus. Deswegen galt das Buch gleich bei seiner Veröffentlichung als „unverfilmbar“. Um das Gegenteil zu beweisen, trat das Triumvirat der Produktionsstätte „Merchant Ivory Productions“ an: Regisseur James Ivory, sein Lebensgefährte und Produzent Ismail Merchant sowie die Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala. Zusammen hatten sie zwischen 1961 und 2005 über zwanzig Produktionen verwirklicht, viele davon urbritische Kostümfilme, zumeist Literaturadaptionen.

Doch obwohl viele ihrer Arbeiten, darunter Hits wie DIE DAMEN AUS BOSTON und ZIMMER MIT AUSSICHT sowohl Publikum als auch Kritiker begeistern konnten, sollte erst WAS VOM TAGE ÜBRIGBLIEB ihr Magnum opus werden, ein Film von so meisterlicher Eleganz, dass er wie seine Vorlage als brillant einzustufen ist, diese in Teilen gar übertrifft. Erst wollte Mike Nichols das Projekt übernehmen und die Protagonisten, Butler Stevens und Haushälterin Kenton, mit Jeremy Irons und Meryl Streep besetzen. Als Ivory an Bord kam, vereinte er stattdessen wieder das Traumpaar seines vorherigen Films WIEDERSEHEN IN HOWARD‘S END: Anthony Hopkins und Emma Thompson.

Der Film beginnt 1956: Nach dem Tod von Lord Darlington wird sein Anwesen an den US-amerikanischen Ex-Politiker Jack Lewis versteigert. Er übernimmt die gesamte Belegschaft, darunter den treuen Stevens. Durch einen Briefwechsel mit Miss Kenton, die Darlington Hall vor langer Zeit den Rücken kehrte, erinnert sich Stevens an ihre gemeinsame Zeit. Er beschließt, nach Südwestengland zu fahren und sie nach Jahren wiederzusehen – vorgeblich, weil er sie erneut als Haushälterin anwerben will.

Ein Großteil des Films spielt nun in den Erinnerungen von Mr. Stevens. James Ivory zeichnet anhand des übertrieben aufopferungsvollen Butlers ein bestechendes Porträt der englischen Aristokratie und erzählt vom Klassensystem des imperialen Zeitalters: Stevens hat in Darlington Hall einen festen Platz, ein klar definiertes Schicksal. Sein einziger Traum darf darin bestehen, diese Rolle so perfekt wie möglich auszufüllen. Seinem Herrn vertraut er blind. Die Überzeugungen des Mannes spielen dafür keine Rolle; entscheidend ist allein das gesellschaftlich eindeutige Verhältnis zueinander. Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Ivory auf, atmete die letzten Züge des Neo-Feudalismus.

Dabei legt er seine Finger in eine Wunde, mit der das Vereinigte Königreich nur ungern konfrontiert wird: Die historische Rolle, die der englische Adel beim Aufstieg des deutschen Faschismus spielte. Darlington, piekfein von James Fox verkörpert, ist treuer Anhänger der Appeasement-Politik von Neville Chamberlain. Er empfand den Versailler Vertrag als Verrat am deutschen Volk. Seine Sympathien für das im Ersten Weltkrieg besiegte Deutschland verpflichten ihn, so glaubt er, in Friedensgesprächen zwischen Großbritannien und den Nationalsozialisten zu vermitteln. Über die Jahre gehen viele Herrschaften in Darlington Hall ein und aus, darunter fanatische Anhänger der Schwarzhemden-Organisation, die offen von einem faschistischen Putsch träumen, und Botschafter des Deutschen Reichs.

Obwohl Ivory auch Idealisten zeigt, darunter des Lords Patenkind, der Journalist Reginald Cardinal, oder jener Jack Lewis, der später in Darlington Hall wohnen wird, ist sein politisches Drama von einer lustvollen Janusköpfigkeit durchzogen: Zum einen ist seine makellose, durchweg inspirierte Regie von einer nostalgischen Sehnsucht geprägt, die jede Möglichkeit erlaubt, sich in der sentimental-verklärten Bourgeoisie zu suhlen. Zum anderen genießt er es, diese Idylle des Upper Class Großbritanniens aufzubrechen, sie einzureißen. Mag der Film anfangs noch Bewunderung für Mr. Stevens auslösen, der beharrlich sein ganzes Dasein dem Dienen widmet, schlägt es in Frustration um, als klar wird, wie fehlgeleitet seine Loyalität Darlington gegenüber ist.

In einer phänomenal deprimierenden Szene etwa zitiert der Lord seinen Butler zu sich, um über die deutschen Flüchtlingsmädchen Elsa und Irma zu sprechen, die unter Mr. Stevens als Dienstmädchen arbeiten. Der Lord wünscht, dass die Mädchen entlassen werden. Als Stevens Bedenken äußert, platzt es aus Darlington heraus: „Sie sind Juden.“ Miss Kenton ist schockiert. Sie droht mit Kündigung. Und auch Stevens ist dabei nicht wohl. Dennoch führt er den Befehl aus. Sein Herr und er sind gar nicht so verschieden: Sie beide sind vor lauter Prinzipientreue zu blind, um zu sehen, auf welche Irrwege sie geführt werden.

Miss Kenton macht ihr Vorhaben nicht wahr. Sie bleibt, und es wird mit jeder Szene klarer, wieso. Sie entwickelt Gefühle für den ihr so rätselhaften Mr. Stevens. Wiederholt drängt sie nun um seine Zuneigung, doch er flieht davor. Er kann und will sie nicht an sich heranlassen – dabei ist längst klar, dass auch er etwas fühlt. Kein Wunder also, dass Ivory für diesen enorm schwierigen Part unbedingt Anthony Hopkins wollte. Er liefert ab: Der Jahrhundertschauspieler war nie besser, seine Leistung ist nuanciert, grandios, wahrhaftig. Dasselbe gilt für Emma Thompson, die die aufkeimende Liebe und ihre verwirrende Faszination für den Butler hervorragend spielt und einem gar das Herz bricht, als sich bei ihr die Erkenntnis breit macht, dass diese Gefühle nie eine Zukunft haben werden.

Die restliche Besetzung ist nicht weniger großartig. Als verliebtes Hausmädchen ist Lena Headey in einer ihrer ersten Rollen zu sehen, sie wurde zwanzig Jahre später durch die Fantasyserie GAME OF THRONES zum Star. Charakterdarsteller Michael Lonsdale mimt grandios einen französischen Abgesandten, der – statt über Politik zu diskutieren – ausschließlich über seine geschwollenen Füße lamentiert. SUPERMAN-Ikone Christopher Reeve repräsentiert in der Rolle des Lewis die Stimme der Vernunft, als er seiner Lordschaft vorwirft, er sei ein Amateur und ihn vor „Frieden um jeden Preis“ warnt. Der integre Reginald Cardinal wird zudem exzellent vom jungen Hugh Grant verkörpert, der erst ein Jahr später durch VIER HOCHZEITEN UND EIN TODESFALL zum englischen Superstar avancierte.

Nicht genug Lob lässt sich über die Ausstattung verlieren: Die Kostüme allein sind über jeden Zweifel erhaben und geprägt von einem weitreichenden Verständnis für die traditionsreiche britische Hochkultur. Mehrere englische Landhäuser kamen zum Einsatz für die edlen Aufnahmen des Kameramanns Tony Pierce-Roberts. Über die vollen 134 Minuten begeistert außerdem die gefühlvolle Musik des Pianisten Richard Robbins, der regelmäßig an Merchant Ivory Produktionen mitwirkte. Dennoch ging Ivorys Romanadaption bei den großen Preisverleihungen 1993 leer aus. Zu in sich gekehrt, zu ruhig, konzentriert, langsam und introvertiert war sie, als dass sie gegen andere, in ihrer Absicht direktere Werke wie das Holocaustdrama SCHINDLERS LISTE oder den Liebesfilm DAS PIANO eine Chance gehabt hätte.

Ivorys Herzschmerzkino ist ein großer Abgesang auf vertane Lebenschancen. Der finale Geniestreich erschließt sich aber erst im Vergleich zur Romanvorlage. Dort erlebt Mr. Stevens auf den letzten Seiten als alter, gebrochener Mann ein Umdenken. Er beschließt, die alte steife Butler-Ideologie loszulassen und seine letzten Lebensjahre zu genießen. Der Film jedoch endet fatalistisch, tragisch und tieftraurig. Stevens beharrt auf seiner Würde, wählt seine Pflichten und damit die Einsamkeit. „Es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu klagen“, sagt er einmal. Und so verbleibt er in Darlington Hall, wahrt vermeintlich den längst vergangenen Stolz der britischen Aristokratie, und bleibt allein mit der Frage, was vom Tage übrigblieb.

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The Remains of the Day, England 1993 | Regie: James Ivory | Ruth Prawer Jhabvala, nach Kazuo Ishiguro | Kamera: Tony Pierce-Roberts | Musik: Richard Robbins | Darsteller: Anthony Hopkins, Emma Thompson, James Fox, Christopher Reeve, Hugh Grant, Peter Vaughan | Laufzeit: 134 Min.