Ein Mann jagt sich selbst

Ein Mann jagt sich selbst

Von Peter Clasen

Psychothriller: Kann man mit einer schönen Frau geschlafen haben und nur eine Viertelstunde später keine Erinnerung mehr daran haben?

Schiffsingenieur Harold Pelham (drei Jahre vor seinem Einstand als James Bond: Roger Moore), Teilhaber der Londoner Firma „Freeman, Pelham & Dawson“ und bei einem Autounfall fast gestorben, fühlt sich seinem Leben zunehmend entfremdet: Kollegen und Bekannte glauben ihn da und dort gesehen zu haben, wo Harold aber gar nicht war. Und in der Frage, ob sein Unternehmen mit dem Wettbewerber EGO fusionieren soll, ja oder nein, sind beide Optionen in Umlauf. Hat Pelham etwa einen Doppelgänger? Lügt er? Oder leidet er an einer Psychose? Völlig verzweifelt schaltet Pelham einen Psychiater ein, was die Sache kaum besser macht, doch Licht ins Dunkel bringt…

Ein übersehenes Kleinod des europäischen Genrefilms (unlängst beim DVD-Anbieter Pidax erschienen) – und Roger Moores Lieblingsfilm unter den eigenen Werken, zeigt es doch, dass der „smarte Luftikus“ dramatisches Potenzial besaß. Natürlich macht es Thrillerkenner extrem misstrauisch, wenn jemand den eigenen Tod überlebt, doch geht es hier zwar auch um die Mechanik einer Suspense-Story, auf anderer Ebene aber sehr wohl um die verhalten satirische Darstellung eines traditionell-konservativen Englands, das sich der liberalen, sexuell befreiten Moderne zu öffnen anschickt.

Roger Moore als Harold Pelham ist fast die Karikatur des zugeknöpft-steifen Gentlemans im schwarzen Anzug, mit Bowlerhut, fein ziseliertem Oberlippenbärtchen und immer derselben Krawatte (nur der weiße Kragen wechselt, was nur erwähnt sei, weil es eine besondere Rolle spielt). Dass er mit seiner Eve zwei Söhne hat, ist fast schon Zufall, denn gewöhnlich möchte sich der Herr nachts einfach nur schlafenlegen. Dass das Leben mehr bietet, aufregender sein kann, scheint der „andere“ Pelham (so es ihn denn gibt) begriffen zu haben, denn der treibt es munter mit einer sexy Fotografin. Natürlich gärt es in Harold Pelham, dem Original, da träumt auch er in seinem panzerartigen, dunklen Rover von einem silbernen Sportcoupé – und drückt mächtig auf die Tube…

Ein aktualisierter DR. JEKYLL UND MISTER HYDE, der einen momentweise an Alfred Hitchcocks DER FALSCHE MANN (THE WRONG MAN, USA 1956) und Don Siegels DIE DÄMONISCHEN (INVASION OF THE BODY SNATCHERS, USA 1956) erinnert (tatsächlich stammt Anthony Armstrongs Vorlage „The Strange Case of Mr. Pelham“ von 1957), dazu ein kleiner Schuss Swingin’ London à la Michelangelo Antonionis BLOW UP (BLOW-UP, GB 1966), garniert mit zwei exzellenten Autorasereien und surrealen i-Tüpfelchen, wie sie im selben Jahr auch Claude Chabrol in DER RISS (LA RUPTURE, F 1970) brachte. Anders gesagt: echtes, gutes Kino auf der Höhe seiner Zeit. Und, das ist besonders schön, nicht wirklich vorhersehbar: Kann sich Harold Pelham aus seiner Spießerhölle befreien und dem falschen Ich Einhalt gebieten? Nun, wie dem auch sei: Roger Moore gewinnt immer, ob so oder so.

Jüngere Zuschauer mögen vielleicht monieren, man könne die ganze Geschichte auch in 45 Minuten erzählen. Das ist gar nicht mal so abwegig, vielleicht hat es tatsächlich mal eine TWILIGHT ZONE-Folge gegeben, die ganz ähnlich funktionierte. Doch das besondere Vergnügen an EIN MANN JAGT SICH SELBST besteht eben darin, die an sich phantastische Geschichte quasi-realistisch auserzählt zu bekommen, mit immer neuen Vignetten einer gehoben bürgerlichen, distanzierten Existenz – und eines gehemmten Snobs, der sich um Selbstbefreiung müht.

Nun gäbe es noch einiges zu loben: die fetzig-fette, großorchestrale Filmmusik von Michael J. Lewis, die herrlich outrierte Spielweise von Freddie Jones als sonnenbebrillter Psychiater Dr. Harris, der wohl nicht zufällig an Peter Sellers in Stanley Kubricks DR. SELTSAM ODER WIE ICH LERNTE DIE BOMBE ZU LIEBEN erinnert (DR. STRANGELOVE…, GB / USA 1964), oder die Kameraführung von Tony Spratling, der in einer Szene das kreiert, was man vielleicht einen doppelten „Ballhaus-Kreiseleffekt“ nennen könnte (Rundum-Kamerabewegung bei Eigenrotation einer Figur auf dem Drehstuhl), oder die Regie des legendären Basil Dearden (TRAUM OHNE ENDE / DEAD OF NIGHT, 1945), der weiß, wie man inszenatorische Akzente setzt.

Das vielleicht größte Highlight passiert gleich in den ersten Minuten: Der Autounfall ist in eine Vielzahl kürzester Einstellungen zersplittert, die vielen Actionfilmen noch immer zur Ehre gereichen würde. Makabrerweise scheint Dearden hier sein eigenes Schicksal vorwegzunehmen: Er starb 1971 bei einem Verkehrsunfall. EIN MANN JAGT SICH SELBST ist sein letzter Kinofilm.

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The Man Who Haunted Himself, Großbritannien 1970 | R: Basil Dearden | DB: Basil Dearden und Michael Relph | K: Tony Spratling | M: Michael J. Lewis | D: Roger Moore, Hildegard Neil, Anton Rodgers, Olga Georges-Picot, Freddie Jones | Laufzeit: 94 Min.

Anbieter: Pidax