Asphalt Cowboy

Asphalt Cowboy

Von Michael Hille

„Jeder redet auf mich ein. Ich höre kein Wort von dem, was sie sagen. Nur die Echos meiner Gedanken.“ – Manches Musikstück kommt in einem Film so prägend, so unglaublich passend zum Einsatz, dass es von nun an für immer mit dem Werk verbunden ist. So geschehen 1969, als die Zuschauer im dunklen Kinosaal der Stimme von Harry Nilsson lauschten, wie er mit der Folk-Ballade „Everybody’s Talkin“ das Drama „Asphalt-Cowboy“ eröffnet. Das Lied handelt vom Wunsch des Sängers, sich aus der Härte der Stadt zurückzuziehen. Der Film dazu eröffnet entgegengesetzt: Da steigt ein junger Bilderbuch-Texaner, mit Cowboy-Hut, braunen Stiefeln und Fransen an jedem Kleidungsstück, in einen Bus, lässt sein Leben als Tellerwäscher hinter sich, fährt in die Metropole, nach New York City. Er träumt den Amerikanischen Traum, hat das große Geld im Sinn. Wie er, dieser „Asphalt-Cowboy“ namens Joe Buck, sein Ziel erreichen will, weiß er genau: Er plant, ein Gigolo zu werden. Die vornehmen Großstadt-Damen träumen schließlich geradezu von einem Kerl wie ihm – oder?

Natürlich sieht die Realität anders aus. Mit seinen vermeintlich flotten Sprüchen kommt Joe bei den resoluten Damen des Big Apples nicht weit. Als er das erste Mal mit einer älteren Dame im Bett landet, stellt sich diese im Nachhinein selbst als Edel-Prostituierte heraus – und statt zu kassieren, muss Joe für den gemeinsamen Bettsport blechen. Hoffnung schöpft er zum ersten Mal, als er in einer Bar den intelligenten, aber kranken Straßengauner Rizzo trifft. Wenig überraschend fällt der naive Südstaatler zuerst auf den Betrüger rein, lässt sich um 20 Dollar abzocken. Doch als er ihm ein zweites Mal begegnet, helfen sie sich gegenseitig. Rizzo sucht jemanden, mit dem er ein paar müde Mark verdienen und sich ein Busticket ins sonnige Florida leisten kann. Joe darf solange bei ihm unterkommen: In einer erbärmlichen, verfallenen Wohnung eines abrissfälligen Gebäudes.

Zwei Außenseiter also, zwei Loser, zwei Antihelden, die nichts haben, außer ihrer Zweckgemeinschaft, die sie selbst vielleicht für Freundschaft halten. Joe Buck und Enrico Salvatore Rizzo hängen beide ihrerseits am Amerikanischen Traum, leben aber seine hässliche Kehrseite. Aus dem Wasserhahn in ihrer Unterkunft ragt ein großer Eiszapfen, Rizzo hustet regelmäßig hörbar um sein Leben, hinkt mit einem Bein stark nach. Auch Joe kann keinen Stich landen: Mit dem Casanova-Dasein läuft es so miserabel, dass er sich vor lauter finanzieller Verzweiflung heimlich in dunklen Kinosälen trotz seiner Heterosexualität auf Fellatio von männlichen Freiern einlassen muss. Eine gewagte Szene: Als der britische Regisseur John Schlesinger die Romanvorlage von „Asphalt-Cowboy“ verfilmen wollte, waren Inhalte wie dieser der Grund, weshalb man ihm versicherte, kein US-Studio würde sein Projekt finanzieren.

Zum Glück hörte er nicht auf diese Prophezeiungen, sah sich durch sie eher angestachelt: Mit „Asphalt-Cowboy“ gelang ihm sein Meisterstück, sein filmisches Aushängeschild. Seine freie Adaption der Buchvorlage von James Leo Herlihy passte in den Zeitgeist des Jahres 1969, als die Vereinigten Staaten zwischen Depression und Hybris pendelten: Richard Nixon übernahm damals die Macht im Weißen Haus, die Hippies feierten in Woodstock, Kriegsverbrechen in Vietnam kamen ans Licht und der Wettlauf ins All fand seinen Höhepunkt. Während Neil Armstrong in der Schwerelosigkeit einen kleinen Schritt für einen Mensch, aber einen großen Sprung für die Menschheit auf den Mond setzte, humpelte sich Dustin Hoffman als Rizzo, abfällig „Ratso“ genannt, auf dem schwer gepflasterten Boden des New Yorker Großstadtdschungels zum Helden einer Generation von Kinogängern.

Wie er und der damalige Leinwand-Frischling Jon Voight als Joe Buck das Leben mit all seiner Härte nehmen und in ihrer Misere den Wert des jeweils anderen erkennen, ist von beiden Schauspielern so anrührend, offenherzig und facettenreich gespielt, dass sie in dieser Duo-Konstellationen zu Kino-Ikonen wurden. Voight ist mit seinen runden Augen, seinen verwegenen blonden Haaren und der optimistischen Ausstrahlung die Idealbesetzung für Buck, doch Hoffman muss als Naturgewalt bezeichnet werden: Seine Darbietung wird noch ein halbes Jahrhundert später regelmäßig genannt, geht es um die allergrößten Schauspiel-Leistungen – zurecht! Mit intensiver Authentizität reifte sein Rizzo zum Archetyp einer Kinoepoche: Die ausklingenden 1960er waren der Beginn des New Hollywood, eine Zeit, in der das traditionelle Studiosystem durch gesellschaftskritische, unkonventionelle Filme revolutioniert wurden. Schon zwei Jahre zuvor war Hoffman in „Die Reifeprüfung“, einem Vorreiter dieser Ära, der Star, in „Asphalt-Cowboy“ wurde er ihr Gesicht.

Der Mut, mit dem John Schlesinger diesen Film ins Kino brachte, beeindruckt. Bei der Veröffentlichung erhielt sein Werk das frisch eingeführte X-Rating: Die höchste Altersfreigabe, eigentlich ausschließlich für Pornofilme reserviert. Auf das Publikum wirkte der hässliche Blick auf die Lebenswirklichkeit in US-Großstädten unerhört. Die Sprache des Drehbuchautoren Waldo Salt war vulgär, voller Profanität. Sie entstammte dem, was er tagtäglich auf den Straßen von New York hörte. Wohl auch deshalb, weil der Film direkt der Realität entnommen war, sahen seine Macher ihn weniger kontrovers. Kameramann Adam Holender konnte, als die ersten Kritiken erschienen, nicht verstehen, weshalb diese menschliche Geschichte vom Feuilleton zum großen Tabubruch erklärt wurde. Michael Childers, der Lebensgefährte von Schlesinger, erkannte in den Reaktionen sogar Heuchelei – schließlich zeige der Film nichts, was 1969 nicht zum New Yorker Alltag auf der 42. Straße gehörte.

Zum Meisterwerk wird „Asphalt-Cowboy“ durch seine dichte Atmosphäre. Während der urbane Lebensstil als knallharter, schonungsloser Existenzkampf zugespitzt wird, ist in den ruhigen Szenen zwischen Voight und Hoffman ein sanfter Humanismus zu spüren. Mit großer Sensibilität erzählt Schlesinger von seinen tragischen Figuren, und so viel Sympathie er mit ihnen hat, so viele hässliche Seiten gesteht er ihnen auch zu. Genauso gestaltet sich sein Bildaufbau: Die Kamera zeigt beeindruckende Panoramen voller Dreck und Schmutz, blickt aber nicht abfällig auf die unschönen Seiten des Lebens. Stattdessen bekommt der Moloch einen nahezu märchenhaften Charakter. Sollten später Regisseure wie Woody Allen oder Martin Scorsese für ihre New-York-Filme gelobt werden, so ist wohl „Asphalt-Cowboy“ die größte filmische Liebeserklärung an die Stadt, die niemals schläft.

Einer konventionellen Dramaturgie verweigert sich „Asphalt-Cowboy“ mit letzter Konsequenz. Die Odyssee beider Hauptfiguren ist episodisch angelegt, und die Kamera verweilt gerne ein Minütchen länger im Augenblick. Viele Szenen wurden ohne angeheuerte Statisten direkt auf offener Straße gedreht, legendär landete so ein Moment im Film, in dem ein Taxifahrer beinahe Dustin Hoffman überfahren hätte. Mit diesem Willen zur Wiedergabe der Realität dokumentiert die Milieustudie die ganze Bandbreite der New Yorker Kultur: Coca-Cola-Trinker sind omnipräsent, ein kleines Mädchen liest einen Wonder-Woman-Comic, Pazifisten demonstrieren nahe des Time Squares, derweil geraten Joe und Rizzo auf eine Party im Stil des abstrakten Künstlers Andy Warhol, Drogentrip inklusive. An diesen Stellen wird die Montage wild, desorientierend, nervenkitzelnd. Sie ergibt sich dem Rausch, der hedonistischen Illusion.

Im selben Stil wird mehrfach die Vergangenheit von Joe angedeutet, in bunten, verwirrend-albträumerischen Rückblenden scheint er Opfer einer Massenvergewaltigung zu werden. Ansätze einer freudianischen psychoanalytischen Deutung finden sich viele, wer jedoch genau Bescheid wissen will, muss in den Roman schauen. Die Tagträumereien von Rizzo sind hingegen leicht zu verstehen: Er sieht sich gemeinsam mit Joe in einem Luxushotel in Florida, umringt von schönen Damen. Komponist John Barry lässt eine flehende Mundharmonika spielen, trägt damit immens zu der gefühlten Hoffnung bei, beiden Figuren sei ein Ausweg aus ihrem Elend vorherbestimmt. Letztlich endet „Asphalt-Cowboy“ wie er begann mit einer schicksalshaften Busfahrt. Joe und Rizzo machen sich auf den Weg nach Florida, auf den Weg ins Paradies – ein Ort, von dem aus es bekanntlich keine Wiederkehr gibt.

„Asphalt-Cowboy“ ist ein Kultklassiker, ein Kind seiner Zeit, und doch zeitlos. Meisterhaft versteht Schlesinger es, sich nie dem Zynismus hinzugeben, sondern eine zutiefst bittere, aber zugleich zärtliche Loserballade zu erzählen, in welcher der Amerikanische Traum zur Amerikanischen Tragödie wird. 1969 gab es hierfür drei Oscars – u.a. in der Hauptkategorie als „Bester Film“. Die Auszeichnung bestätigte, dass die Ära des New Hollywood sich nicht mehr aufhalten ließ. Jon Voight und Dustin Hoffman, beide als „Bester Hauptdarsteller“ nominiert, mussten sich jedoch Filmlegende John Wayne geschlagen geben, der für den altmodischen Western „Der Marshal“ seinen einzigen Goldjungen gewann. Erst Jahre später sollten beide in der Kategorie triumphieren. Ironischerweise wird John Wayne selbst in „Asphalt-Cowboy“ erwähnt: Joe nutzt ihn zur Verteidigung, als Rizzo den Cowboy-Kleidungsstil als „schwul“ bezeichnet. Dabei hatte Rizzo nur erkannt, was die Oscar-Jury noch nicht einsehen wollte: Die Zeit der Cowboys war vorbei, das Zeitalter der Asphalt-Cowboys eingeläutet.

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Midnight Cowboy | USA 1969 | Regie: John Schlesinger | Drehbuch: Waldo Salt | Musik: John Barry | Darsteller: Dustin Hoffman, Jon Voight, Brenda Vaccaro, John McGiver, Ruth White, Sylvia Miles